Kapitel 18- Überstunden

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Tim tauschte noch kurz seine Sachen und ging dann raus. Seine Mutter war heute ein bisschen spät, aber er wollte sich nicht beschweren. Daheim nutzte er die Zeit und bastelte noch etwas an seinem Server rum. Auch wenn es für gerade mal ein paar Codes reichte, um eine neue Mechanik einzubauen, war es ein guter Fortschritt. Ein letztes Mal diese Woche ging er dann früh schlafen. Früh aufstehen war echt nicht seins. Trotzdem quälte er sich kurz nach fünf aus dem Bett und machte alles fertig. Es war schade, dass heute schon der letzte Tag war, doch er würde das beste draus machen. Die Zeit flog jedoch so dahin, als er mit den kleinen Kinder draußen an der frischen Luft spielte. Viel zu schnell war das Haus voll mit den Schulkindern und er half das Mittagessen einzudecken. Für seine letzten Stunden war er noch mal bei einem Psychologen eingeteilt. Von Miu hatte er sich bereits in der Spieleecke verabschiedet und in der Pause hatte er Vivi noch kurz einen Besuch abgestattet. Er hatte noch mal ein paar schlimmere Fälle kennengelernt, bei denen es weitaus nicht so ruhig verlief, wie bei den Gesprächen gestern. Hier hätte er auf ganzer Länge versagt. Daher nahm er das ganze als Erfahrung mit, für ein eventuelles nächstes mal. Wahrscheinlich würde er ein FSJ hier machen. Auch wenn er schon eine Idee hatte, was er später mal machen wollte und wahrscheinlich auch einen Studienplatz dafür bekam. Als sie von der Sitzung mit einer jugendlichen raus kamen, stellte er mit erschrecken fest, dass er nur noch zwanzig Minuten zu arbeiten hatte, bevor er ins Wochenende gehen konnte. „ Schade das du schon wieder gehst. Ich hab so ein bisschen das Gefühl bekommen, du magst es hier." Und wie er es hier mochte. Wenn er nicht zur Schule müsste, würde er noch ne Woche dran hängen oder sogar einen Monat. Er hatte unheimlich Spaß daran. „ Ja leider. Vielleicht komm ich in den Ferien noch mal her. Ich hab unheimlich viel Spaß gehabt." Die Woche war so unheimlich schnell um gewesen. Er hätte echt gerne noch mehr Zeit gehabt den Beruf besser kennenzulernen. „ Ich weiß du hast eigentlich gleich Feierabend, aber möchtest du noch kurz mitkommen? Seit gestern haben wir jemand neuen. Ich möchte nur kurz ein erstes Gespräch mit ihm führen. Gestern hat er auf nichts und niemanden reagiert, als man ihn hier abgesetzt hatte. Dann hast du so ein Erstgespräch auch noch gesehen." Sofort stimmte Tim nickend zu. Je mehr Zeit er noch hier verbringen konnte, desto besser. Musste seine Mutter eben mal ein paar Minuten warten. „ Hab's mir schon fast gedacht. Sei aber bitte sehr sensibel und einfühlsam. Er hat seine Eltern durch einen absichtlich verursachten Autounfall verloren." Tims Mundwinkel sanken nach unten. Er hatte ja schon viele Schicksale kennengelernt, aber das hatte er noch nicht gehört. Sie bleiben beide vor einer Tür stehen. Ihm wurde erstmal gedeutet leise zu sein und einfach nur daneben zu stehen. Zaghaft klopfte der Psychologe an der Tür und trat dann ein. Das Zimmer war noch total unpersönlich und wirkte mehr wie ein kleines Hotelzimmer. Zumindest war es das, was er im halbdunkel erkennen konnte. Denn das Licht war aus und die Fenster verdunkelt. Auf den ersten Blick schien das Zimmer leer. Doch dann fiel sein Blick auf das Bett. Die Decke lag zu einem kleinen Haufen zusammengeschoben auf dem Bett. Darunter hörte er ein leises Schluchzen, welches ihm das Herz zerriss. Das war nicht nur Trauer, das war pures Leid. Der Psychologe setzte sich ans Bett und legte dann behutsam eine Hand auf die Decke. „ Hey Stegi richtig?", fragte er in einem ruhigen Ton und zog sanft die Decke ein Stück zurück. Darunter kam ein kleines Geschöpf zum Vorschein mit hellem verwuschelten Haaren. Das Gesicht war hinter seinen Händen verborgen und er oder sie umklammerte etwas, was wie ein Stofftier aussah. Der kleine Körper lag zusammengerollt unter der Decke. Tim konnte nur erahnen, wie jung er oder sie sein musste. In dem Alter seine Eltern zu verlieren war schrecklich. Das ganze Leben lag noch vor einem und das musste er oder sie ohne seine Eltern bestreiten. „ Schon okay du musst nicht reden. Im Moment ist es schwer für dich. Es wird besser kleiner.", redete der Psychologe weiter auf die kleine Gestalt ein. Eine Regung kam jedoch nicht in den Körper. Er war total abwesend und wollte nicht auf andere reagieren. Ohne das Tim groß darüber nachdenken konnte, sprach er die kleine Gestalt einfach an. „ Stegi? Du bist niemals alleine. Wir sind für dich da.", flüsterte er so einfühlsam und rücksichtsvoll wie möglich. Für einen kurzen Moment konnte er die Augen des Jungen sehen. Nur minimal hob er den Kopf und sah in seine Richtung, bevor er sich wieder im Kissen vergrub und weiter schluchzte. „ Ist okay. Traurig zu sein ist keine Schande. Du hast viel verloren, aber du lebst und das ist das wichtigste. Vielleicht wird es nicht sofort besser und du wirst dich noch eine Weile miserabel fühlen. Aber das geht vorbei und bis dahin sind wir für dich da und unterstützen dich." Mit ein wenig Druck wurde er nach hinten gezogen, weg von dem Jungen und außerhalb seiner Hörweite. „ Sowas darfst du nie niemals sagen. Halt ihm niemals so kurz nach einem Schicksalsschlag diesen noch mal vor Augen. Das ist die erste Regel.", wisperte der Psychologe ihm zu und schob ihn dann nach draußen. Gewollt hatte er das nicht. Er wollte ihn doch nur aufmuntern. So viel falsch machen konnte man da doch nicht, hatte er gedacht. Gott er hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Als sein Blick noch mal flüchtig das Bett streifte, hatte sich das kleine Häufchen elend bewegt. Eine Hand hatte das fest umklammerte Stofftier losgelassen und war in seine Richtung gestreckt worden. Vorsichtig ging Tim wieder näher und griff zögernd nach seiner Hand. Die kleinen Finger klammerten sich Halt suchend um seine Hand. Tim setzte sich zu ihm an die Bettkante. Zärtlich streichelte er durch den wuscheligen Schopf, als der Junge ihn nicht abwies. Bei ihm funktionierte es scheinbar doch.

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