Sechsunddreißigstes Kapitel - Kein Entkommen

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Gemeinsam liefen wir durch die Vorhalle des Krankenhauses auf den Ausgang zu. Sally hielt noch immer meine Hand, zog mich mehr oder weniger hinter sich her, damit ich auch ja nicht stehen blieb. Als wäre ich es, der zum ersten Mal seit langem wieder einen Fuß in die Freiheit setzten würde und nicht sie. Aber als wir kurz davor waren den ersten Schritt nach Draußen zu setzten, hielt sie mit einem mal inne. Sally zitterte leicht, während sie abwesend nach außen in die Welt blickte. Ihre Augen schienen nichts zusehen, als würde sie einfach durch alles hindurchschauen. Es war nicht wie bei einer Vision, kam dem Ganzen aber sehr nah. Es war kein schöner Anblick, aber besser als der von ihr in diesem Krankenhauszimmer, in welchem sie ohnehin schon ihr halbes Leben verbracht hatte. Sallys Schultern spannten sich sichtbar an und ich ging davon aus, dass es mich mit dem Rest von ihr ebenso verhielt. Es sah aus, als wäre sie bereit loszurennen, die Frage war nur, in welche Richtung. Hinaus oder wieder nach oben in ihren neuen, mehr oder minder selbst gewählten Kerker.

„Willst du zurückgehen?", fragte ich und berührte sie leicht an der Schulter.

Ich wollte es nicht. Wollte dass sie ihr Leben wieder bekam, aber hetzten und ihr damit womöglich ebenfalls zusetzten, sie weiter schwächen, wollte ich nicht. Doch anstatt mir zu antworten, ging sie langsam durch die Tür hinaus. Bevor sie den letzten Schritt tat, überlegte sie kurz, zögerte wirklich wieder Teil der Welt zu werden, aber wie sonst auch, schafft sie den letzten Rest des Weges und kehrte zurück in die Wirklichkeit.

Es war wie in einem Traum, fast zu schön um wahr zu sein es mit anzusehen, aber das Zögern, die Tatsache dass es ihr so schwer gefallen war, diesen letzten Schritt zu tun, schmerzte.

„Lass uns gehen", sagte sie über ihre Schulter hinweg und fiel in einen leichten Laufschritt.

Eilig folgte ich ihr. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt so schnell und viel laufen konnte. Aber umso weiter wir kamen, umso mehr wurde mir klar warum sie so schnell war: Wir liefen zwar durch unzählige Nebengassen, aber genau wie sie befürchtet hatte, sahen die Menschen sie alle an, drehten sich sogar um, um ihr nachzublicken, aber Sally reagierte nicht darauf. Entweder bekam sie es nicht mit, oder sie tat so, als würde es sie nicht interessieren. Vermutlich war dass die beste Verteidigung gegen so etwas. Wissen konnte ich es nicht. Schließlich war mein Körper nicht vollkommen zerstört worden, zusammen mit meiner Seele. Gott ich hoffte wirklich, dass es eines Tages wieder anders sein würde. Dass sie wieder lachen würde, aus vollem Herzen, dass sie wieder Leben würde, dass sie wieder vollständig sein würde. All das war mehr als eine Hoffnung. Es war ein Wunsch, welchen ich nicht aufgeben würde, komme was wolle. Einmal hatte ich Sally bereits verloren. Ein zweites Mal würde mir das nicht passieren.

„Warte", meinte sie mit einemmal und hielt inne, wobei sie eine Hand hob, als Zeichen damit ich wirklich da stehen blieb wo ich war und riss mich vollkommen aus meinen Gedankengängen.

„Das ist die Gasse", fing sie an und trat einen Schritt nach rechts.

Suchend blickten wir uns um. Ich wusste nicht nach wem ich Ausschau halten musste, aber nach dieser Vision, würde sich dass von alleine zeigen. Ein Mann der eine Frau verprügelt würde mir nicht entgehen.

„Sie kommen ... ich kann ...", wollte sie fortfahren, dann durchfuhr sie etwas.

Sally streckte ihre Hand nach mir aus, wodurch mir erst bewusst wurde, dass sie in einer Vision gefangen war. Behutsam nahm ich sie und führte sie den Weg entlang. Ihre Haut war weich, trotz der Narben, ihre Berührung brannte sich durch sämtliche Hautschichten hindurch und schickte einen Schauer durch mich. Wenn ich daran dachte wie kurz ich davor gewesen war ihre Berührung nie wieder zu spüren, wurde mir heiß und kalt zugleich.

„Ich kann sie hören", murmelte Sally, keine halbe Minute später konnte ich das Gleiche behaupten.

Eine Frau mit verängstigtem Gesichtsausdruck rannte an uns vorbei, dann ein Mann, der sie wüst beschimpfte und ihr drohte. Augenblicklich zog ich meine Waffe und entsicherte, aber Sally war schneller. Obwohl sie noch in ihrer Vision steckte, welche vermutlich mittlerweile am gleichen Punkt angekommen war wie die Realität, machte sie sich von mir los, rannte hinterher und machte einen Satz auf den Kerl zu, welcher gerade sein Opfer packen wollte um sie zu schlagen.

Perplex beobachtete ich, wie sich Sallys Blick klärte, sie mit der geballten Faust ausholte und dem Täter mitten ins Gesicht schlug. Überrumpelt blieb ich stehen. Sally jemanden schlagen zu sehen, war nicht gerade ein gewohntes Bild. Es sei denn, man zählte den Tod ihres Peinigers mit. Doch dass ... dass war anders gewesen.

Sie wollte noch mal zuschlagen, als ich ihren Namen rief. Mit wildem Ausdruck in den Augen schaute sie mich kurz an, dann ließ sie ihre Finger locker, drehte dem Mann beide Arme auf den Rücken, noch bevor er realisieren konnte, was geschehen war und bedeutete mir ihr die Handschellen zu reichen. Ich gab sie ihr, während ich dem Opfer beruhigend erklärte, dass sie jetzt sicher sei. Weinend brach diese in meinen Armen zusammen. Ihr Gesicht schillerte in den verschiedensten Blau- und Violettönen, was mich schmerzhaft an jemand anderen erinnerte und meinen Blick von der Geretteten in Richtung der Person lenkte, ohne die das nicht möglich gewesen wäre. Sally bugsierte unterdessen den Festgenommenen auf die nächsten Stufen und zog ihr Handy aus der Hosentasche. Sie rief einen Krankenwagen und Verstärkung, dann entfernte sie sich einige Schritte von uns und fuhr sich durch die Haare. Ihre Hände zitterten, ebenso ihre Beine, als sie sich vor einer Hauswand hinhockte. Besorgt beobachtete ich sie bis die Hilfe endlich eintraf. Es waren nur Minuten die bis dahin vergingen, dennoch kam es mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Eine Ewigkeit in der ich bemühte mich um die Frau zu kümmern, welche ich im Arm hielt, doch es wollte mir nicht so recht gelingen. Zu sehr kreisten meine Gedanken um Sally. Als ich endlich von einem Sanitäter dankend weggeschickt wurde, ging ich langsam auf Sally zu, welche noch immer vor dem Haus saß.

„Ich ... ich hätte ihn wieder geschlagen. Ich hätte ... ich hätte nicht aufgehört ...", stotterte sie, als ich bei ihr angekommen war.

Mitfühlend schaute ich sie an, kniete mich neben sie und legte einen Arm um ihre Schultern.

„Das ... das war nicht deine Schuld. Und irgendwann wird es vorbei gehen. Irgendwann ... irgendwann wirst du wieder die Kontrolle haben. ... Das verspreche ich dir", versicherte ich und strich ihr über den Kopf, als sie diesen an meinen Hals lehnte und leise weinte.

„Ich will sie nicht irgendwann wieder haben ... Ich will ... ich will sie jetzt haben. Ich brauche sie jetzt ..."

„Ich weiß. ... Ich weiß", murmelte ich und beobachtete wie Täter und Opfer weggebracht worden.

Für einen von ihnen würde das Leben in Freiheit hier enden, für den anderen begann es gerade erst. Und das war, trotz allem, ein guter Gedanke, welcher mich beruhigte. Ich wünschte nur, dass Sally es ebenso sehen könnte. Doch Trauer und Angst waren gerade zu stark, als dass sie es hätte realisieren können und das war die eigentliche Tragik in alldem.

„Komm ... lass uns gehen", meinte ich, als bereits alle außer uns abgezogen waren.

Der Polizist, welcher unsere Aussagen aufnehmen wollte, hatte vorerst davon abgesehen, nachdem ich ihm einen Blick zugeworfen hatte, welcher vermutlich sehr vernichtend gewesen war.

„Wohin?", flüsterte sie.

„Egal. Hauptsache weg von hier", erwiderte ich und zog sie sanft hoch.

Seite an Seite liefen wir erneut durch die Gassen. Wir berührten uns nicht und doch war sie mir mehr als bewusst. Die Menschen starrten sie erneut an und dieses Mal zuckte sie fast kaum merklich zusammen, wann immer sie es bemerkte. Ich versuchte erst gar nicht ihr Trost zu spenden. Ganz gleich was ich gesagt oder getan hätte, geändert hätte es nichts. Die Welt war und blieb ein grausamer Ort. Vor allem für jemand so besonderen, wie sie es war.

My Long Way To DeathWhere stories live. Discover now