Dreißigstes Kapitel - Böses Erwachen

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Aufwachen kann schmerzhaft sein. So schmerzhaft, dass man sich wünscht, für immer zu schlafen oder gar tot zu sein. Diesen Luxus haben die Lebenden jedoch nicht. Auch ich kam nicht in diesen Genuss. Mein Körper brüllte mich an, sobald ich die Augen aufschlug und mir meiner Selbst bewusst wurde. Suchend schaute ich mich um. Ich war im Krankenhaus, in meinem Zimmer, in meinem Bett, mit der dämlichen Blümchenbettwäsche, die meine Mum mir gekauft hatte, als ich 14 wurde. Aber immerhin, ich war am Leben. Noch jedenfalls. Wer konnte schon sagen, ob ich wirklich über den Damm war? Vermutlich hatten die Ärzte dazu eine Meinung, aber um die zu erfahren, brauchte ich meine Akte und wer wusste schon wo die gerade herumlag. Mit etwas Glück war sie vielleicht sogar hier bei mir. Suchend blickte ich mich danach um:

Der Monitor zu meiner Linken piepte regelmäßig, die Infusion du meiner Rechten war höchstwahrscheinlich voll mit Schmerzmitteln, was ein flüchtiger Blick auf das Gekritzel der Flasche bestätigte und lief langsam in meine Vene. Ich wandte meinen Blick davon ab und schaute stattdessen hinaus in den bewölkten Nachthimmel.

Wie lange ich wohl fort gewesen war? Hatten meine Eltern etwas bemerkt? Ich bezweifelte, dass die Polizei es lange vor ihnen hatte geheim halten können. Andererseits waren sie vielleicht wieder verreist? Wer konnte das schon sagen. Wie viel Zeit war vergangen, seit man mich gefunden hatte? Es konnte nicht ein und die Selbe Nacht sein. Dafür waren meine Verletzungen zu schwer gewesen. Es erschien mir ganz unmöglich, dass ich so schnell wieder aufgewacht war, dafür benötigte der Körper viel zu viel Zeit zum regenerieren. Und jetzt da er sie sich hatte nehmen können, war ich mir sicher, dass er sie auch eingefordert hatte. Letzten Endes half all das Grübeln jedoch rein gar nichts. Ich konnte die Antwort nach Zeit nicht in meinem Kopf finden. Ich musste irgendwoher ein Datum bekommen und bis dahin, würde ich das Thema beiseite legen.

Krampfhaft versuchte ich mich wenigstens daran zu erinnern, wie ich aus dem Haus gekommen war. Was war passiert? Mason war da gewesen, er hätte Walker getötet, wenn ich nicht ...

„Oh Gott", flüsterte ich und setzte mich viel zu schnell auf.

Als Antwort darauf explodierten in meinem Kopf Schmerzen, meine Brust brannte beim Atmen, aber das war es nicht, was das blanke Entsetzten in mir am Leben erhielt:

Ich hatte jemanden umgebracht. Ihm auf grausamste Art den Schädel eingeschlagen. Ich hatte Mason getötet.

Ein panisches Schluchzen stieg in mir auf, meine Nase kribbelte, meine Augen brannten. Nein. Nein! Ich würde nicht weinen. Nicht wegen ihm, nicht wegen mir. Aber genau das würde ich tun, wenn ich an Ort und Stelle bliebe. Ich musste hier raus. Wenn schon nicht aus dem Krankenhaus, dann wenigstens aus diesem Gott verdammten Bett. Wenn ich auch nur eine Sekunde länger in diesem Ding lag, würde ich definitiv zusammenbrechen. Ich konnte bereits den seelischen Schmerz spüren, wie er sich ausbreitete und wollte, dass ich mich zusammenrollte und tagelang weinte. Aber das würde ich nicht zulassen:

Schniefend drehte ich die Infusion zu, zog sie ab und holte einen Stöpsel vom Nachttisch, um die Kanüle in meinem Arm zu verschließen. Anschließend stellte ich die Verbindung zwischen dem Überwachungsmonitor der Krankenschwestern zu dem in meinem Zimmer aus und löste die Elektroden, Blutdruckmanschette und Sauerstoffklammer von mir. Das Gerät fing an zu piepen, doch ich schaltete es sofort ab, schlug die Bettdecke zurück. Als ich runter auf meinen Körper sah, musste ich feststellen, dass ich beinah vollständig verbunden worden war. Überall klebten Verbände oder waren um mich geschlungen. In meinen Gedanken kamen Bilder auf, wie ich zu jeder Einzelnen dieser Verletzungen gekommen war.

Schnell wandte ich meinen Blick ab, bemüht die Erinnerungen so zu unterdrücken. Langsam stand ich auf, nahm mir für jede einzelne Bewegung die Zeit, die ich brauchte. Es tat trotzdem höllisch weh, lenkte mich aber von allem Anderen ab. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den Anderen auf den kalten Boden. Es tat gut sich endlich wieder frei bewegen zu können. Wenn man so lange an ein und derselben Stelle verharren muss, rostet man unweigerlich ein. Meine Muskeln hatten sich dadurch verkürzt, weshalb jeder Schritt noch mehr wehtat, als es ohnehin schon der Fall war, genau wie die Sehnen, selbst meine Haut schien enger zu sein, als zuvor.

Ich schlurfte zum Kleiderschrank und holte mir eine Jogginghose, ein Top und eine Weste. In einem sehr schleichenden Tempo, schaffte ich es mir alles über die Unterwäsche zu ziehen, die ich bis dahin lediglich getragen hatte und musste dabei feststellen, dass keine meiner Klamotten mir noch passten. Sie hingen lediglich an mir herunter und schlabberten bei jeder Bewegung die ich tat.

Vollkommen außer Atem stand ich schließlich da und schaute in den Spiegel. In meinem halben Gesicht klebten Heftpflaster, doch die Wunden sahen nicht so schlimm aus, wie ich es angenommen hatte. Alle waren ordentlich gesäubert worden, bevor man sich bemüht hatte, mich bestmöglich wieder zusammenzuflicken. Behutsam strich ich über den größten Schnitt an meiner Wange. Was wenn diese Verletzungen Narben hinterließen? Ich wollte nicht, dass man schon bei einem Blick in mein Gesicht sah, dass ich ein Opfer war. Ich wollte überhaupt nicht, dass man es sah oder wusste. Ich wollte mein altes Leben zurück. Als es noch langweilig war und meine Schmerzen nur aus unerklärlichen Gründen auftauchten, nicht weil mein Körper von oben bis unten aufgeschlitzt worden war.

Niedergeschlagen griff ich nach meiner Krankenakte, die ich vorne an meinem Bett hängend entdeckte und schlug sie auf. Ich wollte wissen, was sie mit mir gemacht hatten, wie es um mich stand und besonders; ob und wenn ja in welchem Rahmen, ich wieder werden würde. Übelkeit stieg in mir auf, während meine Augen die Zeilen immer schneller überflogen.

„89%?", flüsterte ich ungläubig.

Das konnte nicht stimmen. Ganz unmöglich. Andererseits, wenn ich mich selbst betrachtete und daran erinnerte, wo und über welchen Zeitraum hinweg er mich überall verletzt hatte, war es nicht so unrealistisch, wie anfangs gedacht.

89% meines Körpers waren mit verschiedensten Wunden bedeckt. Vermutlich würden mindestens 65% davon Narben hinterlassen.

Mit viel Selbstbeherrschung, schaffte ich es die Akte zurück an ihren Platz zu tun, statt sie einfach auf den Boden fallen zu lassen. Ich zog meine Weste enger um meinen Körper, schlich zum Fenstersims und setzte mich mit angezogenen Beinen darauf.

65%

Ob ich wohl wieder arbeiten gehen könnte? Hatte ich meinen Job überhaut noch? Mittlerweile hatte man bestimmt jemand Neuen als Ersatz für mich eingestellt. Schließlich hatte ich eine halbe Ewigkeit 35 Stunden die Woche gefehlt. Arbeit wäre an Anderen hängen oder liegen geblieben.

65%

Wo waren meine Eltern und wie sollte ich ihnen erklären, dass ich so aussah? Würden sie mich überhaupt ansehen können, so wie ich jetzt war? Würden sie mit mir klarkommen, mich akzeptieren können? Sie hatten schon vorher Probleme damit gehabt, wie würde unser Zusammenleben jetzt funktionieren? War das überhaupt noch möglich?

65%

Vielleicht sollte ich besser bei Nacht und Nebel ausziehen. Trotzdem ... sie würden so oder so misstrauisch werden. Ich konnte das unmöglich für immer vor ihnen verbergen. Dafür waren sie viel zu kritisch und darauf bedacht mich und meine Entscheidungen im Auge zu behalten.

65%

Wie sollte ich das überleben? Ich war raus, aber irgendwie auch nicht. Ein Teil von mir saß noch in dem verdammten Keller und wand sich unter Schmerzen, während er an den Pfosten gebunden war und Angst hatte Mason würde jeden Moment durch die Tür kommen, um von vorne zu beginnen. Ein Teil von mir stand noch immer panisch und schweißgebadet vor der Entscheidung, ob er sich zu Tode hungern oder Hoffnung haben sollte. Ein Teil von mir, war noch immer am sterben, an einem Ort, an dem man mich nie gefunden hätte,

65% von mir, würden für den Rest meines Lebens gezeichnet bleiben.

65% von mir, würden für immer in Masons Haus bleiben.

My Long Way To DeathWhere stories live. Discover now