Vierunddreißigstes Kapitel - Tiefer als man glaubt

2.9K 174 33
                                    

Ich schaute sie weiter an, während meine Verwunderung über ihre Worte wuchs. Wie konnte es sein, dass sie sich das gewünscht hatte, nachdem ich ihr vor ihrem Verschwinden meist mit Ablehnung begegnet war? Sie ausgenutzt, in Gefahr gebracht und angeschrien hatte? Hatte sie mir mein Verhalten wirklich verziehen? Hatte sie mir vergeben, dass mein Misstrauen größer gewesen war, als meine Vernunft? Oder hatte der Chief möglicherweise doch Recht gehabt, mit dem was er über Sally und ihre Erfahrungen mit Menschen, die von ihrer Gabe erfahren hatten, gesagt hatte? War sie tatsächlich schlichtweg dankbar und froh darüber, dass jemand auf sie gehört und etwas unternommen hatte?

„Aiden? Warum wolltest du mich wieder in deinem Leben haben?", fragte Sally zaghaft, fast als fürchte sie, ich könnte sie für eine Frage wie diese anfahren.

Aber das würde ich nicht tun. Wenn es sich vermeiden ließ, würde ich nie wieder zu ihr sein, wie ich es gewesen war. Kalt und ablehnend. Und dennoch, obwohl sie gewusst haben musste, dass ich sie damals einfach nur aus meinem Leben verbannen wollte, war sie geblieben, hatte mir Widerworte gegeben und ihr Leben in Gefahr gebracht, sogar für mich.

„Seit mein Partner damals gestorben ist, habe ich keinen mehr gehabt. Ich wollte nie wieder so verletzt werden. Es hat mich damals zerrissen, das weißt du, oder?"

Sie nickte, während sich auf ihrem Gesicht Schmerz spiegelte, als sie sich scheinbar an damals erinnerte. Gleichzeitig erinnerte ich mich an ihre Berührung und die Gefühle, welche in mir aufgestiegen waren. Gefühle, welche sie zweifellos von sich auf mich übertragen hatte.

„Ich wollte nie, dass du mit in das alles hinein gezogen wirst. Ich habe nicht einmal daran geglaubt. Außerdem bist ... warst du bloß eine Zivilistin. Du warst ... du warst in meinen Augen nicht passend für das hier. Doch die Entfernung, nicht zu wissen, ob du lebst oder längst tot bist, hat mich gelehrt, dass du dich bereits in mein Leben geschlichen hattest. In jeden Teil meines Lebens. Meine Arbeit, mein tägliches Leben, selbst in meine Gedanken und mein verkrüppeltes Herz", gestand ich frustriert und fragte mich, woher der Hauch von Verzweiflung in meiner Stimme kam.

Vielleicht lag es daran, das ich nie wieder in einer solchen Situation sein wollte, vielleicht daran, dass ich sie vor mir hatte und ihren unnachgiebigen, forschenden Blick nicht ertrug, vielleicht aber auch lediglich daran, dass ich sie mehr mochte, als es für uns Beide gut war. Ihre Augen waren zu wachsam, als dass sie es nicht bemerken könnte, ebenso wie ihr sechster Sinn, welchen sie zweifellos hatte. Getrieben von ihrer Beharrlichkeit, mir die ganze Wahrheit zu entlocke, erhob ich mich und wollte gehen. Ich wollte sie alleine im Zimmer zurücklassen. Zweifellos würde ich auf dem Flur blieben, aber in einem Raum mit ihr, konnte ich nicht länger sein. Nicht weil sie unangenehm war, sondern sie Situation in der wir uns momentan befanden.

Ihre Entführung hatte alles verändert. Sie, mich, den Chief, selbst unsere Arbeit. Nichts war mehr einfach oder schwarz und weiß. Wir bewegten uns weder in Extremen, noch Grauzonen. Es war unbekanntes Terrain, welches mich verwirrte und unsicher machte, mich alles in Frage stellen ließ.

Sanfte, lange, dünne Finger schlossen sich zum zweiten Mal um meine Hand. Ich erstarrte in meiner Bewegung und ließ den Kopf hängen, wandte mich von ihr ab.

„Vertraust du mir?", fragte Sally, leise.

„Natürlich", antwortete ich unumwunden, erzählte es allerdings dem Boden.

„Sieh mich an", forderte sie.

Ein Teil von mir wollte nichts mehr, doch der Größere wusste, dass es gefährlich wäre.

„Aiden", sagte sie leise, ihre Stimme jagte mir einen Schauer durch den Körper, den es nicht hätte geben sollen, ihre Finger schlossen sich fester um die Meinen.

My Long Way To DeathWhere stories live. Discover now