Neununddreißigstes Kapitel - Mason Keppler

647 58 8
                                    

Mason Keppler war kein auffälliger Mensch. Er hatte ein ruhiges Leben geführt. Hatte durchschnittliche Noten, eine durchschnittliche Familie. Bis er herausfand, dass er seine durchschnittliche beste Freundin, mehr als nur ein wenig mochte. Keppler begann aufmerksamer hinzusehen, wenn sie ihre Frisur änderte, neue Klamotten trug und er schaute ganz genau hin, als sie anfing mit den ersten Jungs auszugehen. Er wurde nicht nur ein wenig überfürsorglich. Nein, Mason Keppler begann seine Freundin Jodi Heart zu stalken. Er folgte ihr nicht nur nach Hause. Er folgte ihr in der Schule bis zur Toilette und außerhalb bis zu den nächtlichen Rendezvous mit ihrem variierenden festen Freund. Mason hatte nie die Absicht ihr seine Gefühle zu gestehen, glaubte er doch nicht daran, dass ein Mädchen wie sie jemanden wie ihn je anziehend finden würde. Lieber schaute er zu. Beobachtete sich in wilde Rage über das, was sie mit dem einen oder anderen Jungen tat und dachte sich die verschiedensten Szenarien aus, mit denen er sie dazu bringen könnte, sich nie wieder an Jodi heranzumachen. Letzten Endes wurde ihm jedoch klar, dass es für sein Problem eine viel einfachere Lösung gab: Jodi musste daran gehindert werden, je wieder Kontakt mit einem von ihnen aufnehmen zu können. Sein Plan nahm immer mehr Formen an und als er beinah fertig war und bereit ihn in die Tat umzusetzen, wurde er von jemandem entdeckt. Jemandem, mit dem er nicht gerechnet hatte.

Doch von all diesen Dingen wusste niemand. Weder seine Familie, noch Sally oder die Polizei. Keiner hatte bisher herausgefunden, wo Keppler hergekommen und wie er zu seiner kriminellen Karriere gekommen war. Stattdessen drehten sie sich scheinbar im Kreis mit ihren Ermittlungen und wurden langsam aber sicher fast verrückt.

„Das kann doch nicht sein, dass wir nichts über diesen Kerl herausfinden", murrte Walker und schmiss wütend einen Stapel Papiere auf den Konferenztisch.

„Wie wäre es mit einem Aufruf? Ich meine schaden kann es nicht oder? Sein Komplize weiß garantiert, dass Keppler tot ist. Da können wir genauso gut an die Öffentlichkeit gehen", schlug Pierce vor und strich sich einige Haare aus dem von Überstunden gezeichneten Gesicht.

„Vielleicht meldet sich ein Angehöriger oder Bekannter, wenn wir behaupten dass wir ihn suchen wegen ... sagen wir mal, als Zeugen eines Verbrechens? Die Falschmeldungen dürften sich so in Grenzen halten, und die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand aus dem direkten Umfeld meldet ist größer", fuhr sie fort und schaute mich dabei fest an.

Sorgfältig dachte ich darüber nach und wog die Risiken, gegen die Vorzüge dieser Idee ab. Letzten Endes seufzte ich ergeben und warf die Hände in die Luft.

„Warum eigentlich nicht. Mir fällt jedenfalls nichts Besseres ein, um etwas über den Dreckskerl herauszubekommen."

„Ich sage dem Pressesprecher bescheid, dass er etwas Entsprechendes aufsetzten soll. Und Sie sollten nach Hause gehen. Sie sind schon wieder viel zu lange da, wenn der Chief sieht, dass sie noch immer hier sitzen, schmeißt er sie höchstpersönlich hochkant hinaus", beschloss Pierce und erhob sich von ihrem Platz.

Frustriert nickte ich leicht vor mir her und stand tatsächlich auf, um meine Jacke zu holen und vom Revier zu verschwinden. Nicht das ich wirklich vor hatte nach Hause zu gehen. Zwar hatte ich angefangen wieder öfter und mehr zu schlafen, aber das änderte nichts daran, dass ich so oft wie möglich nach Waters sah. Und genau das würde ich auch jetzt tun, bevor ich mich nach einem langen, ergebnislosen Tag endlich hinlegen würde.

„Grüßen Sie sie von mir", meinte Pierce zwinkernd und hob kurz zum Abschied die Hand.

Als Profilerin brauchte ich gar nicht erst versuchen, sie hinters Licht zu führen, deshalb versuchte ich mich nur an einem schiefen Lächeln und nahm ihren Kommentar wortlos hin. Auf meinem Weg zum Parkplatz traf ich kurz Stryder, welcher mir knapp zunickte und dann weiterging. Er schien zur Kenntnis zu nehmen, dass ich ausgeruhter war, allerdings kam es mir so vor, als wäre er noch immer wütend. Ich schätzte, dass ich keinerlei Recht hatte, ihm das Übel zu nehmen und bemühte mich schlichtweg einfach meinen Job zu machen und vor allem – ihn zu behalten. Als ich Sally von den Spannungen zwischen meinem Boss und mir erzählt hatte, waren ihre ersten Worte eine Entschuldigung gewesen. Sie war der Meinung, dass es ihre Schuld war, aber ich konnte ihr nur Widersprechen. Ich war ein erwachsener Mann und hatte die Entscheidungen getroffen, die mich in diese Lage gebracht hatten und nicht sie.

„Ich weiß nicht Aiden, mir kommt es so vor, als wäre dein Leben ziemlich aus den Fugen geraten, seit ich daran beteiligt bin", warf sie nachdenklich ein und zog unter ihrer Decke die Beine an den schmalen Körper.

„Was soll ich denn dann zu dir sagen, Waters? Deins ist auch nicht gerade eine Party seit ..."

„Hör auf", unterbrach mich ihre leise Stimme. Verwundert starrte ich sie an.

„Wir wollten doch damit aufhören uns schuldig zu fühlen", murmelte sie und legte ihren Kopf auf die Knie. Seufzend schaue ich sie einen Moment lang mit verschränkten Armen an. Dann setzte ich mich nickend neben ihr Bett in den Stuhl, der bereits meine zweite Heimat geworden war.

„Du hast ja Recht."

Heute Abend war ich nicht wirklich zum Reden aufgelegt, aber als ich bei Sally ankam und mich auf meinem Stammplatz niederließ, berichtete ich ihr wie jeden Tag von dessen Verlauf. Aufmerksam hörte sie schweigend bis zum Ende zu, nickte oder schüttelte zwischendurch ein wenig den Kopf, aber das war auch schon alles an Reaktion, welche sie zeigte. Nachdem ich fertig war, erzählte sie mir, was der Neuste Stand der Dinge im Bezug auf ihre Genesung war.

„Sie glauben, dass ich wieder komplett auf die Beine komme, auch wenn der Psychologe sich noch nicht ganz sicher ist, was die Langzeitschäden des Traumas angeht. Er fürchtet, dass ich für immer Albträume haben werde", erzählte Sally und fügte schnaubend hinzu:

„Wenn der wüsste."

Nachdenklich betrachtete ich sie und ihre heilenden Wunden. Sie wurden langsam zu Narben und ich fragte mich, ob sie wirklich so viel zurückbehalten würde, wie anfangs prognostiziert. Die bloße Vorstellung, dass sie bei jedem Blick in den Spiegel an diese grausame Zeit erinnert werden würde, jagte mir einen Schauer über den Rücken.

„Warum gehst du nicht nach Hause?", schlug sie mit einem Mal vor.

„Willst du mich etwa loswerden?", fragte ich in einem scherzhaften Ton.

„Nein. Ich will nur nicht, dass du dir noch mehr Ärger einhandelst, als du ohnehin schon hast", gab Sally zurück und schloss dann die Augen. Ich wusste nicht, ob sie wirklich müde war, oder nur so tat, damit ich ging. Aber ich biss an und erhob mich.

„Okay. Dann bis morgen", verabschiedete ich mich und wollte schon gehen, als ich mich noch einmal nach ihr umblickte.

„Wann gehst du eigentlich nach Hause?"

Schlagartig öffneten sich ihre Lider wieder und sie richtete sich so weit es ging auf. Nachdenklich musterte sie mich und meine Züge, dann entschied sie sich scheinbar, dass ich einer Antwort würdig war und sagte:

„Morgen. Gegen Mittag."

„Holen dich deine Eltern ab?", erkundigte ich mich, obwohl ich die Antwort darauf schon erahnte, wollte ich es trotzdem von ihr hören. Denn ansonsten würde es schwer werden, ihr meine Hilfe anzubieten.

„Nein. Ich habe es ihnen gar nicht erzählt. Ich ... ich bin noch nicht so weit mich ihnen zu stellen. Du warst dabei, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Das war nicht gerade ein Picknick. Außerdem, was soll ich denn sagen? Wenn sie mich auch nur einmal im Bad oder meinem Zimmer überraschen, werden sie sehen, dass ... es wird unmöglich sein ihnen länger weiß zumachen, dass ich überfallen wurde. Außerdem ... unsere Beziehung ist ohnehin schon angeknackst. Das möchte ich ungern auf die Probe stellen", erklärte sie in einem reinsten Wortschwall.

Verständnisvoll nickte ich und schob die Hände in die Jackentaschen, als ich ihr mein Angebot unterbreitete:

„Wenn du willst komme ich Morgen und bringe dich in ein Hotel. Wir werden Polizisten vor deiner Tür abstellen um sicherzugehen, dass du sicher bist. Oder ... du kommst mit zu mir. Dann können wir uns auch das zusätzliche Personal sparen", versuchte ich es so unbefangen wie möglich klingen zu lassen.

Überrascht hob sie eine Augenbraue und bedachte mich mit einem abwägenden Blick. Sie wusste selbst, dass sie beide Möglichkeiten annehmen konnte, wenn ich sie ihr anbot. Was sie letzten Endes zu ihrer Entscheidung bewegte, ob die Möglichkeit so auf dem Laufenden zu bleiben, oder die Nähe zu jemandem den sie kannte, wusste ich nicht, aber ich stellte es auch nicht in Frage.

„Okay", war alles was sie als Einwilligung von sich gab und ich wusste, was sie meinte, auch ohne dass sie es laut aussprach.

„Okay", erwiderte ich und verließ ihr Zimmer, ohne noch einmalzurückzuschauen.

My Long Way To DeathWhere stories live. Discover now