Drittes Kapitel - Die Entscheidung das Richtige zu tun

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„Bitte, bitte tun Sie das nicht", flehte sie ihn mit zittriger Stimme an.

Sie hatte ihn nicht erkannt, als er sie zum ersten Mal sein Gesicht erblicken ließ, und jetzt konnte sie ihn nicht einmal richtig sehen, weil er hinter ihr stand. Aber sie war sich seiner dennoch überaus bewusst und ihr war klar, dass es das Ende war. Sie fühlte seinen schweren, stinkenden Atem in ihrem Nacken, der ihr einen Schauer nach dem Andern über den Rücken jagte, roch seinen Schweiß, der in dicken Perlen von seiner Stirn tropfte. Es widerte sie an, doch sie hatte zu große Angst, um auch nur in Betracht zu ziehen sich zu übergeben, ganzgleich wie sehr sich ihr Magen auch zusammenzog. Allzu viel hätte sie ohnehin nicht von sich geben können. Die letzte Mahlzeit lag so lange zurück, dass sie nicht einmal mehr wusste, was es gegeben hatte.

Ihr Herz krampfte sich zusammen, beinah blieb ihr die Luft weg, als sein dreckiges, rostiges Messer ihren Unterarm entlang glitt, bis zu den Fesseln, die sich bereits den Weg zu ihren Knochen gescheuert hatten und damit unerträgliche Schmerzen in ihr auslösten. Während die Klinge leise sirrend die Seile durchschnitt, schnitt er noch in etwas Anderes. Ihr Fleisch. Zentimeter tief. Ein lauter Schrei hallte durch die Scheune. Ihr Schrei, vertraut aber auch fremd. Sie wusste, dass es niemand hören würde. Tage lang hatte sie sich Stunde um Stunde die Seele aus dem Leib geschrieen, aber niemand war gekommen. Denn es war niemand da. Es gab nur sie Beide und das vermutlich Meilen weit.

Schmerzerfüllt sackte sie zu Boden. Verzweifelt hielt sie sich die Arme, doch es brachte nichts. Warmes Blut floss in Rekordzeit aus ihr heraus und begann kleine Pfützen zu bilden. Weinend, ihres Endes bereits in die Augen blickend, spürte sie erneut kaltes Metall an ihrer Haut. Ihr blieb keine Zeit an ihre Eltern zu denken, ihre Schwester, ihren Bruder oder sich selbst. Denn es war zu spät. Dickflüssig lief es ihren Hals entlang. Fassungslos, beinah ungläubig starrte sie auf ihre blutroten Hände. Und dann endete es so wie es begonnen hatte: schnell. Ihre Sicht kippte, die Welt kippte, sie kippte um und starb.

Nicht schreiend, aber vollkommen unter Schock, wachte ich auf. Noch in meinem Traum gefangen, fasste ich mir an die Kehle und rang nach Luft. Ich zitterte am ganzen Körper, mir war schlecht, vom Geruch des Mannes und der Angst, die ich verspürt hatte, als wäre es meine Eigene. Warum zum Teufel, passierte das ausgerechnet mir?

Langsam, ohne die Antwort auf meine Frage zu kennen, nur eine von unendlich vielen, richtete ich mich in meinem Bett auf und knipste das Licht daneben an. Sofort wurde mein Zimmer in weichem, weißem Licht erhellt und ließ es etwas weniger unheimlich aussehen, als im Dunklen. Während ich versuchte mich zu beruhigen und stark dagegen ankämpfte ein Wiedersehen mit meinem Abendessen zu feiern, fuhr ich mir nachdenklich durch die Haare. Eins war jedenfalls klar: Nächte wie diese waren der Grund, warum ich kaum noch aß. Von ihnen wurde mir nämlich 24/7 lang übel.

Dieser Traum, oder die Vision, oder was auch immer es gewesen war, war die Zukunft von Amanda Clark, dessen war ich mir sicher. Was mich daran schockierte, war nicht die Tatsache es gesehen zu haben, sondern dass ich mir meiner so unheimlich sicher war. Ich wusste einfach, tief in mir drin, dass das was ich gesehen hatte, ihr wirklich passieren würde. Nicht heute, aber in zwei Tagen. Höchstens.

Diese Gewissheit, trieb mich dazu zu meiner Arbeitskleidung zu gehen, in deren Hosentasche noch immer der Ausdruck steckte. Mit fahrigen Händen holte ich es heraus, schaltete meine Schreibtischlampe an und betrachtete das Satellitenbild. Ich glaubte noch immer, dass es sich um die Scheune aus meinem Traum handelte, aber in diesem Moment, wünschte ich mir nichts mehr, als eine Aufnahme vom Inneren.

Da man bekanntlich nicht immer bekam was man sich wünschte, starrte ich weiter resigniert das Foto an. Was sollte ich bloß tun? Denn eins stand fest, irgendetwas musste ich unternehmen. Alleine dorthin zu gehen wäre eine blöde Idee. Vermutlich die Blödeste überhaupt. Aber ich konnte es unmöglich jemandem erzählen. Ich hielt mich schon selbst für verrückt, wie musste es da auf jemand Fremden oder einen Cop wirken? Ich war nicht wirklich scharf darauf, einen klagenden Blick und eine Einweisung in die Psychiatrische Freihaus zu bekommen.

„Komm schon, du kannst sie nicht sterben lassen", redete ich mir selbst zu.

Natürlich konnte ich das nicht, aber war ich wirklich in der Lage das Richtige zu tun? Konnte ich mich wirklich überwinden? In all den Jahren hatte ich nie wirklich in Betracht gezogen, das irgendetwas von dem was ich sah real war. Und jetzt wo ich es tat, wollte ich meine Spinnerein gleich einem Polizisten offenbaren? Wirklich klug erschien mir das nicht gerade. Frustriert begann ich an meinen Nägeln zu kauen. Zu meinem eigenen Entsetzten, musste ich feststellen, dass ich diese Entscheidung nicht mitten in der Nacht treffen konnte. Also machte ich alle Lichter wieder aus und kroch zurück unter die Decke. Schneller als erwartet, fielen mir die Augen zu. Mein Schlaf führte mich zu einem Traum und dieser geradewegs zu Amanda Clark. Das waren nicht unbedingt die erholsamen Stunden, auf die ich gehofft hatte.

Am Morgen wachte ich in einer schlechteren Gemütsverfassung auf, als je zuvor. Vollkommen neben der Spur, ging ich duschen, aß etwas und schaffte es ohne Zwischenfall zur Bushaltestelle. Das Bild hielt ich in den Händen. Ich war mir noch immer nicht sicher, aber desto länger ich darüber nachdachte, umso mieser fühlte ich mich. Übelkeit stieg erneut in mir auf und meine Hände zitterten. Ich wollte nicht dass mich noch jemand so ansah wie meine Eltern es taten und die Menschen, denen ich bereits einmal zu viel mein Vertrauen geschenkt hatte, aber ich konnte sie nicht zurück lassen. Ich kannte Amanda nicht und würde sie höchstwahrscheinlich auch nie kennenlernen, doch das änderte nichts an meinem Gefühl, dass wenn ich ihr nicht half, keiner schnell genug sein würde um es an meiner statt zu tun.

Ich stieg in den Bus ein und achtete zum ersten Mal seit Langem auf die Haltestellen. Heute drückte ich auch früher auf Stopp und stieg wieder aus. Unruhig, als würde mich jemand verfolgen, schaute ich mich um. Aber niemand sah mich auch nur an. Die wenigen Menschen, die bereits auf den Beinen waren, gingen alle müde ihres Weges und kümmerten sich, wie gewöhnlich, nur um sich selbst.

'Was für eine egoistische Welt', dachte ich bloß. Dann hefteten sich meine Augen auf das Gebäude, vor dem ich stand. „Sei kein Feigling, sei kein Feigling", flüsterte ich mir selbst zu.

Langsam stieg ich die Treppen rauf zum Eingang. Als ich die Tür öffnen wollte, wurde sie bereits von Innen aufgehalten. Ein Cop sah mich etwas verwundert an, hielt mir aber dennoch die Tür auf und verschwand dann nach Draußen. Vermutlich hatte ihn meine leicht grüne Gesichtsfarbe, welche ich mit Sicherheit zur Schau trug, etwas irritiert.

Unsicher trat ich in die Eingangshalle und hielt nach jemandem Ausschau, der mir weiterhelfen konnte. Es liefen mehr als genug Leute durch die Gegend, trotzdem wartete ich, bis ich jemanden entdeckte, der mir sympathisch erschien. Schließlich ging ich auf einen älteren Mann zu, der vermutlich bald in Rente gehen würde und mich freundlich anlächelte, sobald er mich entdeckte.

„Entschuldigen Sie bitte. Können Sie mir sagen, wer den Fall von Amanda Clark bearbeitet?"

Ich konnte selbst hören, wie unsicher meine Stimme klang und versuchte wenigstens so auszusehen, als würde ich das wirklich wissen wollen. Aber dem Gesichtsausdruck des guten Polizisten nach zu urteilen, scheiterte ich auch in diesem Punkt ganz kolossal.

Er nickte trotzdem leicht und nannte mir einen Namen, zusammen mit einer Wegbeschreibung. Ich bedankte mich für die Hilfe und machte mich dann auf den Weg. Beim Büro angekommen, stand ich noch eine Weile davor und haderte mit mir selbst, bevor ich endlich anklopfte.

My Long Way To DeathWhere stories live. Discover now