Fünfzehntes Kapitel - Ich kann es nicht glauben

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Eine Mischung aus Wut und Überraschung machte sich auf Sallys Gesicht breit. Lange sah sie mich an. Sehr lange. So lange, dass ich begann mich unwohl zu fühlen. Ihre Augen waren zu durchdringend, zu wissend. Irgendwie hatte ich Angst, dass sie erraten würde, was wirklich in mir vorging. Als sie sich endlich abwandte, fürchtete ich, sie hatte etwas über mich erfahren, von dem ich nicht wollte, dass es jemand erfuhr. Nichts bestimmtes, es war auch nur ein Gefühl, aber ich konnte es einfach nicht abschütteln.

„Fein", meinte sie und schüttelte kurz angespannt ihre Arme aus.

Dann trat sie mit zurückgezogenen Schultern und erhobenem Kopf auf das gelbe Haus zu. Sie klingelte ohne zu Zögern, aber etwas an ihre Haltung verriet mir, dass sie am Liebsten davon laufen wollte. Aber als die starke Peron die sie zu sein schien, blieb sie trotzdem an Ort und Stelle, bis endlich jemand die Tür öffnete. Es war ein Mann Mitte dreißig.

„Sind Sie Natalies Vater?", fragte Miss Waters höflich.

„Das bin ich. Haben Sie Neuigkeiten über meine Tochter?", fragte er und wie aufs Stichwort, tauchte seine Frau neben ihm auf.

Beschützend legte er einen Arm um sie und wartete ungeduldig auf eine Antwort, während sie nervös an einem Nagel kaute. Ungewöhnlich für ihr Alter, aber nicht für die Situation. Sally sammelte sich kurz, bevor sie antwortete:

„Haben wir. Natalie ist im Krankenhaus. Sie hat einen gebrochenen Arm, aber ansonsten geht es ihr den Umständen entsprechend gut."

Die Frau schluchzte auf und drückte ihr Gesicht an die Schulter ihres Mannes. Ich erwartete, dass Sally davon gehen würde, da sie ihren Teil der Aufgabe erledigt hatte, aber stattdessen tat sie etwas vollkommen Anderes: Sie legte Natalies Mutter eine Hand auf den Arm und wartete, bis diese sie ansah, dann sagte sie:

„Ihr wurde der Arm nicht gebrochen. Sie brach ihn sich, als sie eine Treppe runter fiel. Es tat weh, aber es war keine Folter."

„Woher wollen Sie das wissen?", fragte sie mit zitternder Stimme.

„Ich hab sie gesehen", antwortete Sally schlicht, lächelte sie kurz aufmunternd an und wandte sich dann ab, um zum Wagen zu gehen.

Erstaunt sah ich ihr nach, beobachtete wie sie sich unsicher an den Wagen lehnte, vorne überbeugte und versuchte tief durch zu atmen. Natalies Eltern bekamen davon nichts mit. Mein Chief redete gerade mit ihnen und erzählte so viel wie möglich, jedoch hielt er dabei Sally außen vor. Vermutlich, damit man ihn nicht für verrückt erklärte. Es wunderte mich noch immer, dass er einfach Vorbehaltlos auf Sally eingegangen war. Etwas sagte mir, dass ich nicht alles über ihn wusste oder zumindest nicht so viel wie ich immer geglaubt hatte. Aber im Moment war das nicht wichtig. Mich interessierte etwas Anderes viel mehr.

„Sind Sie okay?", fragte ich zu meiner eignen Überraschung, sobald ich neben ihr stand.

Sally sah auf. Ich erwartete einen bissigen Kommentar oder gar keine Antwort, stattdessen lächelte sie schwach. Sehr schwach. Das Funkeln ihrer Augen, welches ich vor kurzem erst entdeckt und mögen gelernt hatte, war beinah erloschen, ihre Hände zitterten und ihre Haltung verriet, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Etwas stimmte ganz und gar nicht mit der jungen Frau und ihr Anblick in einem solchen Zustand ließ mich tatsächlich etwas besorgt werden.

„Es geht schon", versuchte sie das Ganze abzutun.

„Sie hätten ins Krankenhaus gehen müssen. Ich glaube wirklich, dass sie eine MRT machen lassen sollten. Ihr Sturz sah übel aus", meinte ich und verschränkte die Arme vor der Brust, um nicht auf ihren Kopf zu deuten oder womöglich noch ihre Schläfe zu berühren. Langsam richtete sie sich auf und fuhr sich über die schweißnasse Stirn.

My Long Way To DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt