Einunddreißigstes Kapitel - Vergebung

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  • Dedicated to meinem Papa
                                    

Ich war vollkommen mit den Nerven runter, als ich die Station betrat, auf der ich Sally nun schon zum zweiten Mal unserer kurzen Bekanntschaft besuchte. Doktor Masters nahm mich an den schweren Doppeltüren in Empfang, die am Anfang des langen Ganges wie stille Wächter wirkten und begleitete mich bis zu ihrer Tür. Er wollte mir nichts sagen, durfte es auch gar nicht. Dennoch bestand er darauf mich zu sehen. Man sah ihm an, dass er eine lange Nacht hinter sich hatte und ein paar noch viel längere Wochen davor. Masters hatte dunkle Ringe unter den Augen, welche meinen nicht unähnlich waren und er hatte sich definitiv seid mehreren Tagen nicht mehr rasiert. Wenn man mich fragte, hatte dieser Mann sich unglaubliche Sorgen gemacht und war nach wie vor noch dabei sie zu haben. Sally war zwar raus aus dem Haus und ihr Peiniger war tot und kalt in der Leichenhalle, aber es schien noch immer fraglich, ob sie es wirklich überstehen würde.

„Sie wissen, in welchem Zustand sie war, als sie eingeliefert wurde. Ich ... ich kann Ihnen nur raten behutsam mit ihr umzugehen. Ihre äußeren Verletzungen dürften ziemlich genau zeigen, wie es in ihrem Inneren aussieht", sagte er und reichte mir dann die Hand.

Freudlos ergriff ich sie und verabschiedete mich von dem Arzt. Mein Magen rebellierte, als ich daran dachte, dass ich sie in wenigen Augenblicken wiedersehen würde. Was wenn sie mir Vorwürfe machen würde? Die machte ich mir auch, aber sie aus ihrem Mund zu hören, würde etwas vollkommen anderes sein. Etwas, auf dass ich nicht vorbereitet war und niemals gewesen wäre.

„Sei kein Feigling. Geh da rein und stell dich ihr. Das bist du ihr schuldig", redete ich mir selbst zu und verpasste mir dabei einen mentalen Arschtritt.

Zögernd drückte ich die Türklinke nach unten. Ich steckte zuerst den Kopf ins Zimmer, um mich zu vergewissern, dass sie nicht vielleicht am Schlafen war, doch zu meiner Verblüffung, lag Sally nicht in ihrem Bett. Erschrocken trat ich ganz in den Raum und sah mich hektisch nach ihr um. Da saß sie, mit angezogenen Beinen auf dem Fenstersims, den Kopf gegen die Wand hinter sich gelehnt und schaute aus dem Fenster, hinaus in die Nacht. Es war ein erstaunlich friedlicher Anblick. Sie wirkte beinah so, als wäre nie etwas geschehen. Beinah. Denn als sie mich hörte, zuckte sie unwillkürlich zusammen und drückte sich noch etwas enger an die Wand und das Fenster. Sie sah weder in meine Richtung, noch fragte sie danach, wer ich war. Eine Tatsache, die mich erstaunte. Wusste sie, dass ich es war, oder interessierte es sie einfach nicht, wer in ihr Zimmer kam? Hoffte sie vielleicht, dass ich jemand anderes war?

Meine Eingeweide zogen sich zusammen, als ich die Tür schloss und die letzten Schritte auf sie zutrat. Mit einem Abstand von zwei Schritten, blieb ich stehen.

„Sally?", sprach ich sie leise an.

Keine Reaktion. Sie starrte einfach weiter hinaus in den Nachthimmel. Es kam mir vor, als wäre sie in ihrer eigenen Welt gefangen. Womöglich war ein Teil von ihr noch gar nicht im hier und jetzt angekommen. Ein Gedanke, der mich traurig stimmte. Zögernd setzte ich mich zu ihr. Der Blick in ihr Gesicht tat weh. Sie hatte an mehreren Stellen Heftpflaster kleben, ebenso wie an ihrem Hals. Doch das war nicht das Schlimmste. Es war der Ausdruck in ihren Augen. Der frühere Funke darin war erloschen, sie blicken einfach nur noch leer vor sich hin. Schwer schluckte ich und suchte nach den richtigen Worten.

„Ich dachte, ich würde das schaffen", murmelte sie plötzlich leise, schaute aber nach wie vor hinaus.

Perplex starrte ich sie an, vollkommen unfähig irgendetwas zu sagen.

„Damals, ganz am Anfang, da dachte ich, ich käme damit klar. Ich wollte diesen Menschen so sehr helfen. Besonders, nachdem mit Sicherheit feststand, dass ich nicht verrückt bin. Ich liebte das Leben so sehr, auch wenn mir klar war, dass ...", sie hielt inne, was dazu führte, das meine Gedanken sich zu überschlagen begannen.

Was war ihr klar? Das sie sterben würde? Das er sie mitnehmen würde? Was verheimlichte sie mir?

„Doch als Mason mich in seiner Gewalt hatte, wünschte ich mir nichts mehr als zu sterben."

Bei ihren Worten breitete sich ein Gefühl der Taubheit in meinem Körper und meinen Gedanken aus. Der Schock war einfach zu groß. Der Menschen mit der wohl größten Klappe und dem starrköpfigsten Verhalten, dem ich in meinem ganzen Leben begegnet war, hatte wirklich beschlossen zu sterben? Hatte sie wirklich aufgegeben? War der Wunsch nach wie vor vorhanden, obwohl sie frei war?

„Warum wolltest du sterben? Ich hab dich gesucht, die ganze Zeit über", brachte ich endlich etwas hervor.

„Ich hab es gespürt", flüsterte sie und schaute mich endlich an.

„Als er mich mitnahm, wurde ich in deinen Geist hineingezogen. Ich hab gefühlt, wie dich das Leben verlassen hat", erklärte sie mir, während Tränen in ihren Augen aufstiegen.

Mein Herz schmerzte, als mir klar wurde, dass sie nicht mit einer Rettung gerechnet hatte, weil sie mich für tot gehalten hatte. Doch die Tatsache, dass ihr klar gewesen war, dass ich sie retten würde wenn ich nur könnte, löste ein sehr seltsames Gefühl in mir aus.

„Es tut mir so Leid. Ich hätte dich das niemals tun lassen dürfen", murmelte ich.

Ich wollte aufstehen und gehen, um irgendwo meine Schuldgefühle zu ertränken, als Sally plötzlich anfing zu Schluchzen und ihr die ersten Tränen über die Wange liefen.

„Bitte hilf mir Aidan. Ich kann es nicht alleine überleben. Ich will nicht, dass 65% meines Körpers von diesem Mann gezeichnet bleiben. Ich will nicht ...", ihre Stimme versagte und sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.

65%? Soviel? Wie viel ihres Körpers war verletzt worden? Würden 65% von ihr, sie wirklich für den Rest ihres Lebens an den schlimmsten Albtraum erinnern, den sie je durchlebt hatte? Würden 65% von ihr, mich für immer an mein Versagen erinnern? Selbst wenn, ich konnte sie unmöglich von mir schieben. Schließlich war es meine Schuld, dass die Dinge nun so lagen sie sie nun einmal waren. Ich rutschte näher an Sally heran und nahm vorsichtig ihre Hände von ihrem tränennassen Gesicht und in meine großen.

„Ich geh nirgendwo hin", versprach ich ihr leise.

Sie weinte weiter und ich musste mit ansehen wie sie davon immer schwächer wurde, bis sie kaum noch die Augen offen halten konnte. Da stand ich auf und schob vorsichtig meinen Arm zwischen ihre Kniekehlen, den Anderen legte ich um ihre Schultern. Sie zuckte zusammen, als ich sie hochhob, doch sie wehrte sich nicht. Ich trug Sally zurück in ihr Bett, legte sie behutsam hin und deckte sie zu. Sie war schon beinah eingeschlafen, aber als ich gehen wollte, griff sie nach meiner Hand. Ich starre kurz darauf, ehe ich einen Stuhl ran zog und mich setzte, ihre Hand noch immer in meiner haltend.

„Lass mich nicht alleine", murmelte sie kaum hörbar, dann wurden ihre Atemzüge regelmäßiger und seltener.

Mit der freien Hand fuhr ich mir erschöpft übers Gesicht. Wie zum Teufel konnte das alles nur geschehen? Meine Gedanken wurden immer beunruhigender, tobten in meinem Kopf und bereiteten mir Kopfschmerzen. Aber es half alles nichts. Alleine würde ich keine einzige Antwort auf meine Fragen bekommen. Ich brauchte Sally und scheinbar brauchte ein Teil von ihr mich auch, auch wenn ich nicht wusste wieso oder wofür. Doch ganz gleich was die Gründe waren, ich war es ihr schuldig.

Ihre Finger zuckten in meiner Hand unruhig. Ich umschloss sie ein wenig fester und drückte einen Kuss auf ihre Knöchel. Keine Ahnung warum, doch es fühlte sich richtig an.

My Long Way To DeathWhere stories live. Discover now