Siebenunddreißigstes Kapitel - Die Entscheidungen die wir treffen

1.8K 104 37
                                    

Wortlos folgte ich Aiden durch die Straßen, ohne darauf zu achten, wohin er mich brachte. Hätte ich darauf geachtet, wären mir auch unweigerlich sämtliche Blicke der starrenden Menschen aufgefallen. Und das wollte ich lieber vermeiden. Mir war jede meiner Verletzungen bewusst, ich wusste wo sie waren, wie tief sie waren, wie lange es dauern würde bis sie weitestgehend verheilt waren, wie sehr mich jeder anstarren würde, für den Rest meines Lebens. Da musste ich mich nicht bei meinem ersten Ausflug ins Freie damit plagen, die fragenden und mitleidigen Blicke zu analysieren. Umso länger wir liefen, desto weniger spürte ich die Menschen um uns herum und nach und nach hörte ich auf zusammenzuzucken, wann immer ich eine Bewegung wahrnahm. Ich konnte mich nicht entspannen, aber solange Walker in meiner Nähe war, fühlte ich mich wenigstens sicher. Soweit es mir eben möglich war, mich in dieser Welt noch sicher zu fühlen.

„Okay, ich glaube hier ist es gut", sagte Aiden mit einem Mal und holte mich damit ein Stück aus mir selbst und dafür zurück zu ihm.

Ich blickte auf und versuchte mich zu orientieren, aber nichts von dem was ich sah, kam mir auch nur annähernd bekannt vor. Wenn ich es mir recht überlegte, war das vielleicht gar nicht so schlecht. Jeder Ort den ich kannte, versetzte mich in einen Zustand mit rasenden Gedankengängen. Überall könnte ich jemanden treffen, der mich kannte und unweigerlich auf mein neues Äußeres zu sprechen kommen würde. Nicht wirklich eine Unterhaltung auf die ich mich freute. Weder mit meinen Eltern, noch mit meinen Freunden und Bekannten.

„Wo ... wo sind wir?", fragte ich und starrte auf den Fluss vor mir, welcher sich durch Gräser, Bäume und Büsche schlängelte.

„An einem der ruhigsten Orte die ich kenne", antwortete er nur und setzte sich an das Ufer.

Ich folgte seinem Beispiel und beobachtete mit ihm zusammen eine ganze Weile die seichten Wellen, welche immer wieder unter unseren Füßen gegen die Ränder des Flusses brachen.

„Ich glaube nicht dass ich zerbrochen bin. Ich bin verloren in diese riesigen Chaos aus Gefühlen, Träumen und dem Leben. Ich wollte einfach nur noch dass es vorbei ist. Da unten in diesem Loch, habe ich mir nichts mehr gewünscht als all dem zu entgehen.

Ich habe keine Angst vor meinem Leben oder den Menschen. Ich habe überhaupt keine Angst. Ich ... ich bin so unglaublich wütend. Ich will nur eins: Rache. Aber die ... die habe ich mir selbst genommen, als ich ihn umgebracht habe", tief atmend wandte ich meinen Blick zu Walker.

„War das falsch von mir? War es falsch ihn zu töten und damit den Familien die Genugtuung zu nehmen ihn vor Gericht zu sehen? Ich meine, ich war schließlich nicht die Einzige. Was ist mit Amanda und all den Anderen? Was ist ..."

„Hey", unterbrach Walker mich sanft.

„Du hast um dein Leben gekämpft Waters. Daran kann und will ich nichts Falsches sehen."

Mein Kopf begann bereits sich von links nach rechts zu bewegen und wieder zurück, noch bevor ich darüber nachdenken konnte.

„Ich habe nicht um mein Leben gekämpft. Damit hatte ich doch schon längst abgeschlossen."

Fragend, aber auch besorgt musterte Aiden mich, versuchte aber nicht mich dazu zu drängen ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Das tat ich von ganz alleine.

„Ich hab um dein Leben gekämpft. Ich wusste, dass er dich umbringen würde, wenn ich eine Konfrontation zwischen euch nicht verhinderte. Es hat mich nicht interessiert ob ich lebend davon komme, wenn ich ihn dafür so weit aus dem Verkehr ziehen konnte, damit du sicher bist", gestand ich die Wahrheit und meine wahren Motive für den Mord an meinem Peiniger.

Wortlos wurde ich an seine Schulter gezogen. Nebeneinander sitzend schauten wir auf das Wasser. Sein Arm lag locker beschützend um meine Schultern und hielt mich sacht.

„Warum bist du in meine Erinnerungen eingetaucht?", fragte er plötzlich vollkommen unvermittelt.

„Tut mir Leid, ich wollte damit nicht in deine Privatsphäre eindringen. Ich ..."

„Es hat dich interessiert", mutmaßte Walker.

„Du interessierst mich. Ich wollte herausfinden ob ... ob ein Teil von dir noch nicht zerbrochen ist."

Resigniert atmete Aiden aus, bevor er sich überwand mich zu fragen:

„Und?"

„Ein Teil ist da. Aber ich bin mir nicht sicher, ob mir gefällt welcher es ist", antwortete ich aufrichtig und mit schmerzender Brust.

„Geht mir genauso", murmelte er.

Gefangen in dem Moment schloss ich die Augen und lauschte den Geräuschen des Wassers, seiner langsamen Atmung.

„Wann ist mein Leben nur so furchtbar kompliziert geworden?", fragte ich mich selbst leise.

„Als du beschlossen hast, nicht länger zu versuchen vor der Wahrheit wegzulaufen", bekam ich eine Antwort mit tiefer Stimme.

Lächelnd schaute ich auf.

„Unglaublich."

„Was denn?"

„Wie gut du mich kennst, obwohl du mich von der ersten Sekunde an in Frage gestellt hast", sagte ich grinsend, einfach weil ich nicht widerstehen konnte und den Gedanken erheiternd fand.

„Natürlich habe ich das. Man kann schließlich nicht jeder dahergelaufenen Verrückten glauben, die behauptet irgendwelche Dinge zu sehen", erwiderte er lachend, wofür er sich prompt einen Hieb mit der Faust einhandelte.

„Autsch. Das tut weh weißt du", protestierte er.

„Klar. Mir vermutlich mehr als dir", erwiderte ich und schüttelte leicht die Hand.

Leise lachend nahm Aiden sie behutsam in seine großen und hauchte einen Kuss darauf.

„Besser?"

„Klar. Hilft doch immer", murmelte ich.

„Nicht immer", flüsterte er und zog mich erneut an seine Schulter.

„Ich schätze wir müssen beide lernen damit zu leben."

„Mit was?", fragte ich verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel.

„Unseren Entscheidungen. Ich weiß das ich mir für den Rest meines Lebens nicht verzeihen werde, ganz gleich ob du es getan hast oder nicht. ... Und genauso wird es dir gehen.

Du hast einen Menschen getötet. Der Grund oder was für eine Art von Mensch er war, ist bedeutungslos dabei. Du hast ein Leben genommen und wirst für immer damit leben müssen. Ebenso mit den Wenn's und Vielleicht's. ... Niemand kann sagen was passiert wäre, wenn du es nicht getan hättest. Niemand weiß was passiert wäre, wenn ich dich nicht den Lockvogel hätte spielen lassen. Fakt ist: Wir müssen mit der Realität leben, die wir selbst geschaffen haben, als wir diese Entscheidungen getroffen haben."

Still dachte ich über seine Worte nach, ließ sie langsam einsacken und fragte mich, ob ich wohl wirklich damit leben konnte. Was er gesagt hatte stimmte, aber konnte ich mich tatsächlich damit abfinden, mich für den Rest meiner Tage damit zu plagen die Nächte wach zu liegen und mich zufragen was alles hätte sein können?

„Worüber denkst du nach?"

„Ich frage mich, wann du nur so weise geworden bist", antwortete ich und lächelte dabei zu ihm auf.

„Ich war schon immer weise. Es ist dir nur noch nie aufgefallen, weil du mich meistens an die Wand zu reden versuchst."

„Versuche? Ha. Da muss mir wohl was entgangen sein."

My Long Way To DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt