Sechsundvierzigstes Kapitel - Der Schmerz des Lebens

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Wortlos hielt ich Aiden und versuchte zu verstehen, was gerade passierte. Ich war mir einfach nicht sicher, ob er sich in einem Gedankenkarussell befand, oder in einer Art Schockzustand. Denn wenn ich ehrlich war, erinnerte mich sein Benehmen ein wenig an eine solche Situation.

Hin und her gerissen, ob ich einfach verharren sollte, bis es ihm besser ging oder einen Krankenwagen rufen, strich ich durch sein dickes, schwarzes Haar.

Als er sich auch nach mehr als fünf Minuten nicht zu beruhigen schien, war ich ernsthaft versucht Hilfe zu rufen. Doch noch vor dem Griff zum Telefon, versuchte ich etwas, dass ich eigentlich nie wieder tun wollte, ich hatte es mir selbst und sogar Walker geschworen es nie wieder zu tun, aber ich konnte dieses Versprechen nicht halten. Nicht wenn es ihm so schlecht ging. Also schloss ich meine Augen, hielt Walker etwas fester, legte eine meiner Hände auf seine Stirn, die Andere auf seine breite Brust. Und dann, ... drang ich in seine Gedanken ein.

Es war ein wildes Durcheinander und ich versuchte erst gar nicht es zu ordnen, denn dafür war ich diese Verbindung nicht eingegangen. Ich wollte nicht in ihm stöbern. Ich wollte ihm helfen. Langsam beschwor ich das Bild vom Fluss herauf, an dem wir gewesen waren. Es war beruhigend und noch frisch in meiner Erinnerung, sodass es mir nicht schwer fiel es zu halten. Und obwohl ich etwas derartiges noch nie zuvor versucht hatte, schien es zu funktionieren. Das Chaos begann in den Hintergrund zu rücken und Aidens Herz unter meiner Hand beruhigte sich allmählich.

„Es ist in Ordnung", flüsterte ich und sandte den Gedanken gleichzeitig durch die Verbindung, um ihm damit mehr Nachdruck zu verleihen.

Natürlich war sein Benehmen damals nicht unbedingt zuvorkommend gewesen, aber konnte ich ihm wirklich einen Vorwurf machen? Kaum. Was ich gesagt hatte stimmte. Und auch wenn ich es wirklich nicht gewollt hatte, hatte ich in ihn gesehen, während er seine kurze Rede abgegeben hatte. Ich wusste, dass er damals an einem finsteren Ort gewesen war mit seinen Gedanken und sich selbst. Aber ich hatte auch festgestellt, dass er die Wahrheit darüber vor mir verbergen wollte. Weshalb ich ihm verschweigen musste, dass ich sie nun kannte. Wenn er nicht ohnehin gemerkt hatte, dass ich kurz bei ihm gewesen war, allerdings bezweifelte ich das. Dafür war er zu aufgewühlt.

Der Fluss in meinem Kopf begann unruhig zu werden und ich verstand den Wink, bevor es Auswirkungen auf Walker haben konnte. Ich fasste mich, kam zu Ruhe und konzentrierte mich ausschließlich darauf, dass Aiden sich wieder sammeln konnte.

Es dauerte erstaunlich lange, bis er sich zu regen begann und von mir lösen wollte. Augenblicklich fing ich an, sanft die Verbindung zu unterbrechen und ließ ihn auch physisch los. Und obwohl ich die ganze quälende Zeit über darauf gewartet hatte, fühlte es sich kalt und leer an, auf jemanden Zentimeter den er sich von mir entfernte.

Er richtete sich zögerlich auf, blieb neben mir sitzen und griff nach meiner Hand, als sie von seiner Brust gleiten wollte. Er hielt sie an Ort und Stelle, ließ den Kopf hängen, raufte sich die Haare.

„Das war definitiv nicht geplant", meinte er irgendwann leise, aber ohne mich dabei anzusehen.

„Ich wollte gerade etwas Ähnliches sagen. Ich schwöre, dass ich mir deine Gedanken nicht angeschaut habe. Du warst nur so ... und ich konnte es nicht mit ansehen wie du leidest. Ich musste dir doch irgendwie helfen", versuchte ich zu erklären, brach aber ab. Er würde mir nie glauben.

Die Versuchung wegzuschauen, als er seinen Blick endlich hob war groß, fast so groß wie meine Scham. Warum konnten wir nicht aufhören Fehler zu machen? Warum hörten wir nicht auf uns ständig beim Andern zu entschuldigen? Befand ich mich hier in der ungesündesten Bekanntschaft – Freundschaft – die es geben konnte?

„Danke Sally. Du weißt gar nicht, was du für mich getan hast", flüsterte Aiden und streichelte meine Hand, die er noch immer hielt.

Den Tränen nah, hob ich die freie und legte sie an seine Wange, ehe ich mich vorbeugte, um meine Stirn an die seine zu legen. Mit geschlossenen Augen verharrte ich so und wusste nicht, ob ich hemmungslos losweinen wollte. Es fühlte sich in meinem Herzen danach an, aber ein Gefühl, dass mir unbekannt war, hielt mich davon ab. Und so flossen lediglich einige stumme Tränen und tropften auf unsere verschränkten Hände.

„Ich glaube, wir sollten uns beide eine Weile ausruhen", sagte Walker irgendwann.

„Gute Idee", stimmte ich zu.

Er erhob sich und zog mich sacht hoch. Auf halbem Wege durchzuckte mich ein unsagbarer Schmerz im linken Arm und Schwindel erfasste mich, erpicht darauf mich zu Fall zu bringen.

Ein leises gequältes Stöhnen entfuhr mir und sofort regierte der Detektiv: Er umfasste mit einem Arm meine Taille, der Andere fuhr hoch, um mit der Hand meinen Kopf zu halten.

„Was hast du? Sprich mit mir Sally!"

Ich wollte es, ich wollte ihm antworten, konnte aber nicht. Nicht wirklich. Alles was ich unter Aufbringung einiger Konzentration, den Schmerz bekämpfend, hervorpresste war:

„Anstrengend."

„Ach verdammt. Du hast dich übernommen", fluchte Walker und trug mich eilig in mein Zimmer, wo er mich auf dem Bett ablegte.

„Du hast doch bestimmt Medikamente gegen die Schmerzen mitgenommen. Wo sind die?", wollte er wissen.

Ich warf einen Blick zum Schrank und schon eilte er dorthin. Als Detektiv kannte er sich nicht aus mit dem womit er sich konfrontiert sah, aber als solcher konnte es trotzdem noch handeln, statt in komplette Panik zu verfallen. Systematisch las er die Beschriftung der einzelnen Dosen, bis er fand, was er suchte.

„Okay, die hier, oder?", er hielt sie mir vor die Nase.

Ich nickte und bäumte mich im nächsten Moment leicht auf und warf den Kopf zurück, als der Schmerz meinen Rücken hinunter fuhr und in meinem gesamten Brustkorb brannte.

„Shit! Hier", eine Tablette wurde mir in den Mund geschoben und ich schluckte ohne zu Zögern.

Es würde eine halbe Stunde dauern, ehe sie wirkte. Bis dahin hieß es durchhalten und nicht schreien, sagte ich zu mir selbst. Solche Anfälle hatte ich schon gehabt, aber ich konnte nicht sagen, dass ich mich je an sie gewöhnte.

Walker stand kurz unschlüssig neben dem Bett, blieb stehen, blickte besorgt zu mir hinab, ehe er sich neben mich aufs Bett legte und behutsam in den Arm nahm. Mein Kopf lag an seiner Schulter, trotzdem konnte ich das starke Pochen seines Herzens hören und auch wenn es wieder unruhig war, beruhigte es mich, weil ich mich darauf fixierte, anstatt auf den Schmerz.

So verging eine der längsten halben Stunden meines Lebens. Als das Medikament anfing zu wirken, wurde ich automatisch auch müde. Allmählich wurde der Schmerz schwächer und ich fing an mich in Walkers Armen zu entspannen. Er schien es zu merken, denn auch er wurde merklich lockerer. Und noch bevor ich etwas Dankendes murmeln konnte, driftete ich davon.

Da stand sie, hinter den halb zugezogenen Vorhängen ihres Zimmers und streifte sich gerade ein eng anliegendes Top über. Jodi. Sie holte ihr blondes Haar unter dem Stoff hervor und legte es sich über eine Schulter nach vorne. Wie gerne hätte Mason nach einer ihrer Strähnen gegriffen und sie sich um den Finger gewickelt. Aber um das zu tun, hätte er weit mehr als seine Position hinter einem Baum auf der anderen Straßenseite ihres Hauses aufgeben müssen.

Also blieb er wo er war und schaute weiter durch das Glas. Ihr wirklich jemals nah genug kommen zu können, um sie auf eine andere als freundschaftliche Art zu berühren, war für Keppler kein realistische Vorstellung. Außerdem gefiel es ihm, sie aus den Schatten zu beobachten, wenn Jodi der festen Überzeugung war, dass niemand sie sah. Denn gerade dann konnte er eine Seite von ihr studieren, die sie sonst nie von sich zeigte. Eine wilde, ungestüme und hin und wieder durchaus erotische Seite, die sie nicht mal gegenüber ihren Liebhabern preisgab, was eine Tatsache war, die Mason mehr als nur befriedigte. Dieser Teil von Heart gehörte ganz ihm, ob sie es nun wusste oder nicht. Ob sie es nun wollte, oder nicht.

Gerade als Kepplers Erregung anfing sich immer mehr zu steigern, beobachtete er, wie sie sich vorbeugte und etwas auf ihre Lippen auftrug. Lippenstift. Angewidert verzog er das Gesicht, jede Erregung war augenblicklich vergessen. Mit solch einem Zeug sah sie immer aus wie eine Hure. Eine Hure, die sie genau genommen ja auch war. Jeden, aber auch jeden Kerl ließ sie an sich ran. Nur ihn nicht. Niemals hatte sie Mason einen Blick zugeworfen, der sich auch nur ansatzweise mit denen messen könnte, die sie ihren vielen Bewunderern zuwarf.

Heiße Wut und Hass bauten sich in ihm auf, als er erkannte wie sie sich ihre Jacke schnappte, um kurz darauf das Haus zu verlassen. Fast schon wahnsinnig vor Raserei wollte er ihr folgen, wurde aber zurückgehalten, als eine dunkle, schauderhafte Stimme murmelte:

„Geduld mein Freund. Geduld."

My Long Way To DeathWhere stories live. Discover now