Zweiunddreißigstes Kapitel - Gefangen in den eigenen Gedanken

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Als ich aufwachte, war mein erster Gedanke, dass ich noch immer in dem kalten Keller gefangen war. Doch dann wurde mir bewusst, dass das Bett in dem ich lag, viel zu bequem war, die Luft zu sauber und angenehm warm und ich lediglich über eine meiner Hände keine Gewalt hatte. Langsam öffnete ich meine Augen, um festzustellen, was mich daran hinderte, mir mit beiden Händen die Decke über den Kopf zu ziehen und mich darunter zu verkriechen. Denn genau das, war momentan mein stärkstes Bedürfnis. Wie fantastisch es wäre, wenn sich unter meiner Bettdecke ein schwarzes Loch befände, dass mich einsaugen und in die Weiten des Weltalls katapultieren könnte, weit weg von meinen Problemen auf der Erde.

Mein Blick fiel auf Walker, der zusammengesunken auf einem Stuhl neben meinem Bett saß und schlafend meine Hand hielt. Allmählich fielen mir die vergangene Nacht und mein Zusammenbuch ein. Noch nie in meinem Leben, ganz gleich wie schlecht es mir gegangen oder wie nah ich dem Tot bereits gewesen war, ich hatte noch niemals etwas Derartiges erlebt wie von wenigen Stunden. Noch nie hatte ich mich so leer, aber auch so übervoll an Hass, Wut und Frustration gefühlt. Peinlich berührt darüber, dass Walker mich in einem solchen Zustand gesehen hatte, entzog ich ihm vorsichtig meine Hand. Durch die Bewegung wurde der Detektive jedoch wach. Murrend sah er sich um und schien ebenfalls einen kurzen Augenblick verwirrt zu sein. Als er mich anschaute, kam die Erinnerung scheinbar auch bei ihm zurück. Er räusperte sich verlegen, rieb sich die Augen mit beiden Händen und murmelte mit rauer Stimme:

„Hey, wie geht es dir?"

Hilflos zuckte ich mit den Schultern. Wie sollte es mir schon gehen?

„Na Liebes, wie geht es uns denn heute? Hast du über dein Verhalten nachgedacht? Genug Zeit hattest du ja."

„Besser?", hakte er nach.

Ich legte den Kopf schief und dachte darüber nach. Als gestern Abend? Mein Körper sagte nein, meine Nerven ja. Es war also ganz gleich was ich sagte. Es wäre Beides eine Lüge, aber auch die Wahrheit.

„Ah ah ah ah! Du sollst doch nicht lügen", säuselt er in mein Ohr und zog andächtig einen feinen Schnitt meinen Unterkieferkochen entlang.

Zaghaft nickend konnte ich beobachten, wie sich ein Hauch von Erleichterung auf Walkers Gesicht breit machte.

„Gut", sagte er, holte tief Luft dabei und wandte seinen Blick von mir ab.

„So ein braves Mädchen. Dann wollen wir sehen, was wir heute mit dir anstellen."

Er schien in seinen eigenen Gedanken zu versinken, während ich das Gleiche tat. Mein Blick wanderte zu meinen zerschundenen Handgelenken, meine Gedanken verließen das Zimmer, das Krankenhaus und flogen zurück in den kalten Raum, der mein Gefängnis gewesen war. Sofort stieg Übelkeit in mir auf.

„So wunderschön, aber auch so starrköpfig. Was machen wir da nur?", fragte er und fuhr mit der Klinge meinen Hals entlang.

Seine Finger spielten mit einer Strähne meiner Haare und seine Lippen waren beim Sprechen immer wieder an mein Ohr gepresst. Seine Faszination für mich war mir unerklärlich und widerte mich von Mal zu Mal mehr an. Wie konnte ein Mensch sich dermaßen daran begeistern, wie ein Anderer sich bewegte, redete, lachte und weinte?

„Sally, Sally, Sally!", Aiden riss mich im wahrsten Sinne des Wortes brutal aus meinen Erinnerungen.

„Da bist du wieder", murmelte er.

Ich wusste nicht, wann er aufgestanden und an mein Bett getreten war, doch nun stand er neben mir und fuhr mir mit einer Hand sanft über die spröden Haare. Sorge spiegelte sich in seinem Blick wieder. Es war ein Anblick voller Aufrichtigkeit, so dass ich mich nicht daran störte, wenn er mich berührte. Letzte Nacht war ich zu verstört gewesen, um es wirklich zu bemerken, wenn er mich anfasste, doch in diesem Moment, wurde mir klar, dass Aiden Walker ernsthaft besorgt war. Vielleicht lag es daran, dass ich ihn kannte, vielleicht an etwas vollkommen Anderem, doch jedes Mal wenn eine Schwester rein kam, um nach mir zu sehen, zuckte ich unwillkürlich zurück, selbst bei der sanftesten und zufälligsten Berührung. Es bereitete mir unerträgliche Schmerzen. Nicht nur körperliche, sondern psychische.

Die vergangenen Wochen, war jede Berührung, die ich gespürt hatte, kalkuliert gewesen. Jedes Mal, hatte ein Gedanke dahinter gesteckt, der verstörender war, als er vorherige.

„Keine Sorge Liebes, für heute lassen wir es gut sein", sagte er und fuhr mit dem Zeigefinger sanft über meine Wange.

Übelkeit kroch in meinen Magen, doch mein Körper reagierte automatisch und ohne dass ich es wollte, auf eine Art, die mich mich selbst hasse ließ. Ein Teil von mir war erleichtert und sackte entspannter als zuvor zusammen. Ich wusste, was er von mir wollte, doch er würde es niemals bekommen.

„Hey, nicht wieder verschwinden", versuchte Walker mich in der Gegenwart zu halten.

„Woran denkst du?", fragte er nach einer Weile, in der er mich stetig übers Haar gestrichen hatte.

Ich schaute ihn an, ohne ihn wirklich zu sehen, meine Gedanken sprangen ständig von Einem zum Anderen. Es war schwer auch nur einen davon wirklich festzuhalten.

„Bitte sag etwas Sally", murmelte er verzweifelt.

„Daran, dass du der Einzige bist, der mich anfassen darf und ich mir nicht erklären kann warum", antwortete ich ehrlich.

„Es stört und verstört mich, wenn eine Krankenschwester es tut oder Doc. Masters. Aber bei dir fühle ich aus irgendeinem Grund keine Furcht. Du hast mich gefunden, aber keiner hier hat mir je geschadet. Also warum fürchtet ein Teil von mir sich vor ihnen, aber nicht vor dir?"

Überrascht ließ Aiden seine Hand sinken. Verwirrung machte sich auf seinem Geicht breit. Er wollte von mir abrücken, um so viel Distanz wie möglich zwischen uns zu bringen, aber ich reagierte, ohne überhaupt darüber nach zu denken. Meine Finger griffen nach seinen. Er starrte einen Augenblick lang auf unsere Hände, analysierte die Situation ausführlich, ehe er sich seufzend zu mir aufs Bett setzte.

„Das ist alles so merkwürdig", murmelte er.

„Wie kann es sein, dass du mich nicht hasst? Denn auch wenn du es mir nicht gesagt hast, glaube ich, dass es so ist. Ich glaube nicht, dass du mich auch nur in deine Nähe lassen würdest, wäre es anders", gestand er seine Angst.

„Warum sollte ich dich hassen?", fragte ich leise und rutschte ein Stück, damit er sich besser setzten konnte, was er auch tat.

„Ich hab dich nicht beschützt", wisperte er qualvoll.

Ich schüttelte leicht den Kopf um zu widersprechen und legte eine Hand an seine Wange, als er den Kopf senkte.

„Es ist, wie ich gesagt habe. Es war nicht deine Schuld. Nichts von alledem."

Aiden hob den Blick. Behutsam legte er seine feie Hand auf meine, die noch immer sein Gesicht berührte. Sanft nahm er sie davon, küsste die Innenfläche meiner rissigen Hand und ließ sie dann los.

„Ich verdiene deine Vergebung nicht", sagte Walker und verzog sich selbst missbilligend das Gesicht.

„Doch, das tust du. Ebenso wie ich Vergebung dafür verdiene, dass du wegen mir fast gestorben bist", erwiderte ich.

„Wir haben uns nicht mit Ruhm bekleckert, haben falsche Entscheidungen getroffen, aber letzten Endes sind wir beide noch hier."

Nachdenklich sah er mich an. Er schien den Gedanken hin und her zu wälzen, ehe er meinte:

„Ich verstehe, was du meinst."

„Gut", murmelte ich erschöpft, rutschte ein Stück in meinen Kissen nach Unten und rollte mich zusammen.

Meine Stirn lag an seinem Knie, da er das linke Bein vor sich angewinkelt auf dem Bett liegen hatte. Er ließ meine Hand los. Etwas sehr winziges in meinem Inneren protestierte dagegen, wurde jedoch davon beruhigt, dass er mir kurz darauf über den Rücken strich.

„Danke, dass du durchgehalten hast."

„Danke, das du nicht aufgegeben hast", murmelte ich, bevor ich erneut vom Schlaf übermannt wurde.

My Long Way To DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt