Vierzigstes Kapitel - Nächtliche Wanderung

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Rastlos schlich ich mitten in der Nacht über den Flur der Station und versuchte nicht darüber nachzudenken, dass ich am nächsten Tag, oder viel mehr in ein paar Stunden, zumindest vorübergehend bei Walker einziehen und meine Eltern damit weiter von mir schieben würden. Ich wusste, dass es die richtige Entscheidung war, dennoch fürchtete ein Teil von mir sich vor ihrer Reaktion. Seit Jahren hatte ich darum gekämpft, dass sie mir glaubten, mir vertrauten oder wenigstens so taten. Aber alles was gekommen war, waren Zweifel. Zweifel ob ich noch bei Verstand war, Zweifel ob ich die richtigen Entscheidungen traf, wenn es um meine Gesundheit ging. Es schien als ob sie schlicht nicht in der Lage waren, mich zu unterstützen und hinter mir zu stehen, ohne mich in Frage zu stellen. Ich hatte oft den Verdacht, dass sie mich noch immer als das kleine kranke Mädchen sahen und nicht als die Frau, die ich mittlerweile geworden war.

„Alles in Ordnung Sally?", hörte ich die Stimme von Schwester Katrin, die mich entdeckt hatte, als ich gerade um eine Ecke gekommen war.

Resigniert seufzte ich. Ich hatte mich so sehr nach ein paar Schritten alleine auf den stillen Gängen gefreut, mich danach gesehnt etwas Ruhe zum Nachdenken zu finden. Aber das alles verabschiedete sich mit einem mal und obwohl sie mir gar nichts getan hatte, drehte ich mich genervt zu ihr um und erwiderte nur kalt:

„Alles Bestens", ehe ich von dannen zog.

Sie schien wenig begeistert zu sein, ließ mich aber machen. Vermutlich war sie froh, dass ich überhaupt mein Bett und Zimmer verlassen hatte, was abgesehen von meinem Ausflug mit Walker vor einiger Zeit und den Physiotherapiesitzungen, sonst nie vorkam. Die Ärzte und sämtliche Schwestern hatten sich größte Mühe gegeben, selbst die Beamten vor meiner Tür, aber abgesehen von Walker, Doc Masters und dem Therapeuten, hatte ich bislang alle Leute auf Abstand gehalten.

Es kam mir einfach nicht so vor, als ob ich wirklich in der Lage dazu war, bereits die Präsenz von Menschen dauerhaft in meiner Nähe zu ertragen. Dafür waren sie zu sehr angefüllt mit ... Wünschen, Emotionen und Verlangen und all das kontrollierte kein Einziger. Sie ließen allem freien Lauf und scherten sich nicht darum, was sie damit womöglich anrichten könnten. Aber wenn man fair blieb, konnte man ja auch unmöglich ahnen, dass es so etwas wie ich auf den Straßen herumlief.

Von meiner aktuellen Lage restlos überfordert, kehrte ich um und schlurfte zurück zu meinem Zimmer. Letztlich konnte ich ja doch nichts daran ändern. Die Dinge blieben wie sie waren, auch wenn ich noch so sehr etwas Anderes wollte. Zuerst musste ich mein Leben wieder auf die Reihe bekommen. Mein Auszug von Zuhause würde einer von vielen Schritten sein. Von Walker aus konnte ich mir eine winzige Wohnung suchen, die ich mit meinem Job bezahlen konnte, wenn ich ihn denn noch hatte, und dann würde ich meine Seele wieder zusammensetzten.

Seit meiner Rettung, hatte ich nur einmal mit meiner Chefin telefoniert um ihr zusagen, dass es mir Leid tat und ich gerne wieder zurückkommen wolle. Sie bohrte solange nach, bis ich zugab, dass ich überfallen worden war und mich nach wie vor im Krankenhaus befand. Sie wünschte mir gute Besserung und erklärte, dass ich vorbeikommen solle, sobald es mir besser ginge. Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob ich wirklich noch bei ihr arbeiten durfte.

Müde und erschöpft von meinem kleinen Ausflug und meinem Gedankenkarussell, kroch ich in mein Bett, verband den Monitor wieder mit meinen Elektroden, die mein Herz überwachten und drehte mich dann zum Fenster hin auf die Seite. Meine Augenlider wurden immer schwerer, bis ich schließlich vom Schlaf überwältigt wurde und in einen unruhigen Traumzustand verfiel.

„Jodi warte!", rief er einem jungen, blonden Mädchen hinterher, welches gerade vor ihm den Klassenraum verlassen hatte und den langen Gang mit Spinden hinunter in Richtung Ausgang lief.

„Was ist denn Mason? Ich muss wirklich gehen. Jack wartet auf mich", erwiderte sie und hielt nur kurz inne, um ihrem Verfolger einen genervten Blick zuzuwerfen.

In den letzten Wochen hatte ihr Freund angefangen sich immer mehr in ihre Entscheidungen einzumischen und sie wusste gang genau, dass er nicht begeistert darüber war, als sie ihm erzählt hatte, dass sie über die Sommerpause nicht Zuhause sein würde. Aber wenn sie ehrlich war, war es ihr egal, was Mason darüber dachte. Sie wollte gehen, als ging sie. Da hatte er überhaupt nichts zu sagen.

„Jack? Wirklich? Komm schon, dass kann doch nicht dein Ernst sein. Du weiß ganz genau, dass er mit so ziemlich jedem Mädchen der Schule geschlafen und sie dann weggeworfen hat", regte Mason sich auf und packte ihr Handgelenk, um sie zum stehen bleiben zu zwingen.

„Ach das ist doch gar nicht wahr. Alles Gerüchte", protestierte sie und versuchte sich aus seinem Griff zu winden.

„Denkst du ja? Dann frag doch mal Melissa oder Katie. Die erzählen nämlich genau das. Und sein wir ehrlich, die Beiden haben wirklich keinen Grund zu lügen", knurrte der junge Mann und sein Griff verfestigte sich.

„Aua, Mason du tust mir weh", wimmerte Jodi und schaute ihn mit flehendem Blick an.

„Was ist denn nur los mit dir? Du hast immer zu mir gehalten. Was ist jetzt anders?", wollte sie wissen, nach wie vor bemüht sich von ihrem besten Freund zu befreien.

„Heart kommst du?!", hörten sie Beide plötzlich die Stimme von Jack am Ende des Ganges, der den Arm hob und sie zu sich winkte.

„Lass mich bitte gehen", versuchte Jodi es ein letztes Mal und wenn auch nur sehr widerwillig, ließ Mason sie los und trat von ihr zurück.

„Du machst einen Fehler", fauchte er beinah schon und drehte sich dann auf dem Absatz um.

Vollkommen in Rage wachte ich auf, bereit jeden zu verletzten, der mir in die Quere kam. Mein Herz hämmerte wie wild, der Monitor piepte immer schneller und mein Atem ging stoßweise, als wäre ich gerade ein gutes Stück gerannt.

Auf einmal ging die Tür auf und eine Schwester kam herein. Sie wollte auf mich zukommen, um nach mir zu sehen, herauszufinden, warum mein Puls so hoch war, aber ich hob eine Hand, um ihr deutlich zu machen, dass sie nicht näher kommen sollte. Sie verstand und verharrte an Ort und Stelle, beobachtete wie ich langsam wieder zu mir kam.

Die unbändige Wut welche ich in mir spürte, war nicht meine Eigene, sie kam von Mason oder viel mehr einer jüngeren Version von ihm. Langsam aber sicher ordnete ich meine Gedanken und separierte eine Emotionen von den seinen. Nach einigen Minuten fing ich an mich zu beruhigen und die Krankenschwester kam auf mich zu, um den Alarm des Monitors auszustellen.

„Geht es?", fragte sie behutsam, als wäre ich ein verschrecktes Tier, dass in die Scheinwerfer eines Autos starrte.

Zur Antwort nickte ich nur und ließ mich tiefer in meine Kissen sinken.

„Ich hole Doktor Masters. Bin gleich wieder da", erklärte sie mir, aber ich hatte mich bereits von ihr weggedreht, in dem Versuch nicht laut los zu schreien. Zwar hatte mein Innenleben sich allmählich wieder sortiert, aber eine große Frage blieb mir erhalten:

‚Was zum Teufel war das gewesen?'

My Long Way To DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt