Viertes Kapitel - Das erste Aufeinandertreffen

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Als sie zum ersten Mal in mein Büro kam, dachte ich zuerst sie hätte sich verlaufen. Doch wie sich herausstellte, war sie genau dort gelandet, wo sie hingewollt hatte. Allerdings schien sie zu diesem Zeitpunkt selbst daran zu zweifeln. Sie wirkte unsicher, knackte mit den Fingern und schaute sich nervös in dem kleinen Raum um, in dem ich die meisten Stunden des Tages verbrachte. Ich kann nicht behaupten, dass ich besonders freundlich zu ihr gewesen wäre, im Gegenteil. An jedem anderem Tag, hätte ich mich für mich selbst geschämt. Aber sie erwischte mich an meinem absoluten Tiefpunkt. Der Grund warum ich ihr letzten Endes glaubte, war sehr simpel: Ich war verzweifelt. So verzweifelt, dass ich selbst der verrücktesten Theorie, der unglaubwürdigsten Spur und Quelle nachging. Wie sich herausstellen sollte, war es die beste Entscheidung, die ich hätte treffen können, auch wenn ich das damals noch nicht wusste und jeden ausgelacht hätte, der sich bemühen würde mich eines Bessern zu belehren.

„Herein", murrte ich, mit dem Kopf in meine Hände gestützt, schaute jedoch nicht auf. Dafür hing ich zu sehr meinen Gedanken nach.

Es war zum Verzweifeln. Seit Wochen hatten wir keine Spur von Amanda. Der Wald war mit Spürhunden abgesucht worden, genau wie ihr Haus und das gesamte Grundstück. Ihr Gesicht war in sämtlichen Nachrichten und in jeder Zeitung zu sehen. Nichts hatte etwas ergeben. Sie war und blieb verschwunden. Der Grund, warum mir gerade dieser Fall so unter die Haut ging, war dass wir wirklich absolut rein gar nichts wussten. Zwei, drei Dinge, hatte ich mit viel Mühe über sie herausbekommen, aber das war es auch schon. Es war, als wäre sie ein Geist. Ja, ihre Familie hatte von ihr gesprochen, aber nichts von dem was man mir erzählte, sagte wirklich etwas über die Verschwundene aus. Ich tappte im Dunkeln und mein Chief wollte, dass ich den Fall entweder beiseite legte oder an die Abteilung für Cold Case Fälle abgab. Nichts davon wollte ich. Es wurmte mich, dass sie einfach verschwinden konnte, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Das perfekte Verbrechen war ein Mythos, niemand in unserer Abteilung glaubte daran, aber hier war es, direkt vor meinen Augen. Keine Zeugen, keine Spur, keine Leiche. Kein Gott verdammter Täter. Nicht mal einen einzigen Verdächtigen gab es.

„Entschuldigen Sie die Störung, aber ich ...", hörte ich eine weibliche Stimme erklingen.

Ich schaute auf und sah eine junge Frau an meiner Tür stehen. Unsere Blicke trafen für einen kurzen Augenblick aufeinander, sie knackte mit den Fingern und schaute sich anschließend unruhig um. An die Wände, ihre Schuhe, ihre Finger. Sie setzte ein paar Mal an um etwas zu sagen, brach jedoch jedes Mal ab. Es war anstrengend mit anzusehen und zerrte ganz gewaltig an meinen überstrapazierten Nerven.

„Ich glaube, Sie haben sich in der Tür geirrt", meinte ich schließlich um dem traurigen Schauspiel ein Ende zu setzten. Ihr Verhalten erinnerte mich mehr, an das eines Vergewaltigungsopfer, als an eine normale Besucherin oder einer Frau die eine Vermisstenanzeige aufgeben wollte.

„Nein, das denke ich nicht", widersprach sie und deutete mit einem Kopfnicken auf mein Namensschild, welches auf dem Schreibtisch stand, woraufhin ich auf einen der Besucherstühle zeigte. Sie ging darauf zu, blieb dann aber doch stehen.

„Hören Sie, ich hab wirklich keine Zeit für ...", wollte ich sie loswerden, sollten doch die Kollegen sich mit ihr rumplagen, aber sie fiel mir bereits heftig ins Wort:

„Ich weiß etwas über Amanda Clark."

Interessiert schaute ich sie mit gerunzelter Stirn an. Dieses Mal sagte ich nichts, sondern wartete darauf, dass sie weitersprach. Mein Unterbewusstsein wusste, dass es sie verschrecken könnte, wenn ich sie in diesem Moment zu sehr bedrängte. Und das wollte ich lieber nicht riskiere. Wenn sie wirklich etwas über einen hoffnungslosen Fall wusste, würde ich den letzten Rest Geduld den ich noch hatte zusammenkratzten und für sie benutzen.

„Wissen ist vielleicht das falsche Wort. Aber ich denke ... also ich glaube ... ich glaube, ich weiß wo sie ist", fuhr sie irgendwann fort und strich sich unruhig eine braune Strähne hinters Ohr.

Langsam erhob ich mich von meinem Stuhl. Hoffnung regte sich in mir, wurde dabei jedoch vom einer ordentlichen Portion Misstrauen begleitet.

„Was soll das heißen, Sie wissen wo sie ist?", knurrte ich und musterte kritisch ihre Mimik, die mir mit Sicherheit sofort verraten würde, falls sie mich belog.

„Ich hab gesagt, dass ich glaube zu wissen wo sie ist", korrigierte sie mich.

„Woher?", hakte ich nach.

Ich war von Natur aus Skeptiker und mein Beruf hatte diese Eigenschaft nur verstärkt.

„Spielt das eine Rolle?", fragte sie und wandte sich von mir ab.

Sie lief einige Schritte durch den Raum, legte so viel Abstand zwischen uns wie nur irgend möglich, ohne dabei auf dem Flur zu landen. Es war unverkennbar, dass in ihrem Inneren ein Kampf tobte. Rücksicht nahm ich darauf keine. Meine Geduld war hiermit aufgebraucht und somit auch mein letzter Nerv.

„Ja, allerdings. Also, woher wollen Sie wissen, wo sie ist?", wiederholte ich meine Frage, dieses Mal etwas forscher.

„Ich hab ... ich hab sie gesehen. In einem ... einer ... in meinem Traum. Letzte Woche. Und seitdem immer wieder", sagte sie schließlich, drehte sich wieder zu mir, biss sich auf die Lippe und wartete angespannt auf meine Reaktion. Vermutlich wusste sie bereits was kommen würde, denn ihrer Haltung nach zu urteilen, war sie darauf gefasst gewesen.

„In einem Traum? Ich weiß ja nicht, was mit Ihnen nicht stimmt, aber ich versuche hier eine junge Frau zu finden, die vermutlich schon tot ist! Ich brauche keinen Teenager, der mir das Leben schwermacht und irgendwelche Märchen erzählt. Verlassen Sie sofort mein Büro und verarschen Sie jemand anderen!", fuhr ich sie lauthals an.

Sie zuckte kaum merklich zusammen, aber meinem geschulten Auge entging es trotzdem nicht. Wut und Selbstsicherheit machten sich auf ihrem Gesicht breit. Scheinbar hatte mein Angriff gegen sie etwas in ihr geweckt. Etwas, das stark und klagend in ihren Augen funkelte, als sie zum Gegenschlag ausholte:

„Sie ist nicht tot, aber wenn wir nicht bald etwas unternehmen, wird sie es in weniger als 48 Stunden sein!"

Schwer atmend stützte sie sich mit einer Hand an die Wand. Ihr linkes Bein fing zu zittern an, was mir vielleicht Sorgen gemacht hätte, aber ich war so in Rage, dass es mir vollkommen gleichgültig war. Sollte sie doch umkippen. Diese Rotzgöre konnte sich gerne zum Teufel scheren. Eine polizeiliche Ermittlung war doch kein Scherz! Als ich nichts erwiderte, hob sie abwährend eine Hand und sagte:

„Es war ein Fehler herzukommen."

„Was Sie nicht sagen", stimmte ich ihr zu und verfluchte sie in Gedanken.

Langsam schlich sie zur Tür. Sie öffnete sie und trat einen Schritt nach draußen, als sie sich noch einmal umdrehte:

„Falls Sie sich doch noch dazu entschieden, dass Ihnen das Leben des Mädchens etwas wert ist, rufen Sie mich an. Mein Name ist Sally Waters. Vielleicht sollten Sie es sich zur Sicherheit aufschreiben."

Dann ging sie. Fassungslos starrte ich ihr nach. Wie konnte man nur so dreist und gefühlskalt sein?

Ihren Namen schrieb ich mir nicht auf. Es war auch nicht nötig, denn nach einem solchen Auftritt und Streit, wie hätte ich sie da jemals vergessen können?

My Long Way To DeathWhere stories live. Discover now