Kapitel 3

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Kaum befinde ich mich vor dem Ausgang, da klingelt es schon. Die dritte Stunde beginnt. Für mich heißt es Biologie – mein Lieblingsfach. Keiner meiner Freunde ist in meinem Kurs, also bin ich auf mich alleingestellt. Das Problem ist, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wo der Raum ist. Ich drehe mich orientierungslos um meine Achse. Wo zum Teufel bin ich? Wo ist dieser verdammte Raum? Genervt schaue ich auf meinen Zettel. J23 und wo ist bitteschön J23? Ich komme am ersten Tag zu spät, wie beschissen! So sollte das nicht ablaufen. Ich hasse es, wenn ich irgendwo fremd bin und dann noch zu spät komme! "Musst du auch zu Bio?", fragt mich jemand ... und wen erblicke ich? Den herumleckenden Locken-Jungen. Was ein Zufall. "Ja", erwidere ich mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen. Er ist mir nicht so ganz geheuer, egal wie nett er gerade wirkt. "Komm mit. Du läufst in die falsche Richtung", lächelt er. Oh. Peinlich. Na ja, es ist eigentlich nicht peinlich, sich zu verirren. Statt dem Jungen eine Antwort zugeben, gehe ich auf zu ihn zu, signalisiere damit, dass ich mitkomme, was er auch zum Glück versteht. Wäre peinlich, wenn nicht.

Wie viele Räume gibt es hier? Und wie viele Treppen müssen wir noch hinauflaufen? H-Trakt und dann kommt der J-Trakt. Warum auch immer. Auf dem Weg herrscht eine Stille, die mir jedoch ganz gut kommt. In solchen Fällen bin ich passiv. Ich zögere, zu sprechen. Mein Gegenüber muss den ersten Schritt machen. "Bist ja nicht gerade gesprächig." Wie passend. Ich muss schmunzeln, unterdrücke es mir aber, egal wie lustig ich den Zufall finde. "Scheint so." "Wieso hast du vorhin so komisch geguckt?" Sein Ernst? Ich glaube, der Typ macht das extra. "Soll ich dir ein Lied singen, während du jemanden küsst und mich dabei anstarrst?" Er lacht als Reaktion nur. Ich bin überrascht, dass er mein unfreundliches Verhalten so locker aufnimmt. Wäre ich er, dann wäre ich schon ausgerastet. "Ich mag dich." Ouh. Ich hätte mit einer anderen Reaktion gerechnet. Eher damit, dass er meine Arroganz nicht abkann oder ähnliches. Seine freundliche Antwort ernüchtert mich. Wow. "Ich mag mich auch." Der denkt doch nicht, dass ich ihn auch mag oder ihm direkt um den Hals falle. Am Ende ist es nur eine Masche. "Autsch, das tat weh", gibt der Locken-Junge leicht theatralisch von sich, als er sich eine Hand auf seine Brust legt. "Ich bin übrigens Ramazan und du kannst mich ruhig angucken, ich beiße nicht." Ich beiße aber, Ramazan. Zum Glück haben wir gleich den Raum erreicht, den noch weitere Schüler betreten. "Nein, danke Ramazan. Ich schaue lieber gerade aus." Ich setze mich nach vorne in die leere Reihe, rechne wirklich genauso wenig damit, dass Ramazan sich neben mich gesellt. Was will der? Zugegeben: seine Art wirkt nicht penetrant. Er wirkt eigentlich auch recht sympathisch und seine Haare lassen ihn tollpatschig wirken. Aber genug davon. Der Unterricht ist wichtiger.

Die Lehrerin stellt sich vor und erzählt uns, dass wir uns zu Anfang mit dem menschlichen Körper beschäftigen werden, ehe wir auf das Thema der Klausur eingehen. Vielleicht, weil wir viel Zeit haben, vielleicht aber auch, weil sie Wert darauflegt, ein besseres Allgemeinwissen zu vermitteln. Das heißt also wir müssen die Namen der Knochen, Muskeln und Organe lernen und hoffentlich die Fachbegriffe. Besser für mich, denn das ist genau mein Gebiet. So komme ich meinem Traumberuf näher. Wir besprechen einiges, woraufhin Frau Schnitzler aus der Ecke ein Skelett rauszieht und es in die Mitte der Klasse stellt. Ihr schwarzer Stift zeigt auf den Schädel. Noch bevor sie die Frage formulieren kann, melde ich mich. "Bitte, ..." "Shana", ergänze ich. "Der Fachbegriff für Schädel lautet Cranium." Ich fühle mich dabei wie Dr. Shepherd höchstpersönlich. "Korrekt. Schreibt es euch bitte alle auf, denn wir werden hauptsächlich mit den Fachbegriffen vorgehen." Nun zeigt meine neue Lieblingslehrerin auf den Bereich der Luft- und Speiseröhre, weswegen ich mich wieder und als Einzige melde. Ich werde ihre Lieblingsschülerin, wir werden beste Freunde!, trällere ich mir innerlich zu, weswegen ich schon schmunzele. "Trachea und Ösophagus."

"Dr. Shana", kommentiert Ramazan stolz, weswegen ich weiter schmunzele. Dr. Shana Salih, Dr. med. Shana Salih, Prof. Dr. med. Shana Salih, wie göttlich sich das anhört! Vielleicht wird es ja bald wahr. Hoffentlich wird es wahr, denn sonst bin ich arbeitslos. Es muss wahrwerden! Wenn nicht ich, wer dann? Ich will all das, woran die Ärzte aktuell scheitern, besser machen. Es meldet sich kaum einer. Nur ab und zu bei den Gesichtsknochen und das ohne Fachtermini, sodass sich der Unterricht gerade als ziemlich eintönig erweist. Ramazan zeichnet neben mir schon Strichmännchen mit extrem Genitalien und voluminösen Hinterteilen, die sich abstechen und mit Gewehren attackieren. Als wir am Brustkorb ankommen, bittet mich meine Lieblingslehrerin nach vorne. Scheiße, ich werde rot, was Ramazan auch bemerkt und sich sein Lachen verkneifen. Ich stoße ihm heimlich in die Seite. Doch ich brauche gar nicht rot zu werden, denn die Leute hier im Kurs haben doch eh keine Ahnung und verstehen nicht einmal etwas. Das ist so weniger unangenehm für alle, schätze ich mal. Ich schreite nach vorne und ehe ich beginnen kann, wird die Tür aufgerissen. Wer zur Hölle kommt jetzt erst in den Unterricht? Ich achte nicht darauf, wer reinkommt. Gerade habe ich besseres zu tun. Tief durchatmen.

Die Person riecht echt verdammt gut, aber als ich realisiere, wer da gut riecht, würde ich am liebsten kotzen, denn es ist der arrogante Wichser, der sich in die letzte Reihe setzt. Aber an ihn denke ich nicht mehr. Ich gebe nur der kleinen Duftwolke meine Aufmerksamkeit und noch mehr meiner jetzigen Präsentation. Immerhin nehme ich gerade eine autoritäre Rolle ein. "Also, Shana! Beginne bitte." Aber ich habe gar keine Strukturierung und weiß nicht so genau, wie ich beginnen soll. Scheiße, jetzt gibt es kein Zurück, egal! "Wie wir sehen, haben wir hier den Thorax, wo sich unsere Pulmo und unser Cor oder auch Kardia genannt befinden und von unserer Pleura bedeckt wird", beginne ich und kratze mir meine Schulter. Mir wird warm. Es gefällt mir überhaupt nicht, dass ich keine Struktur besitze, sondern alles runterrattere, aber ich ziehe es trotzdem durch und erwähne noch die Hepar, Colon, Jejunum und andere Organe und Organabschnitte im Abdomen, außerdem noch den Humerus, Ulna und Radius in den oberen Extremitäten, Fakten und vieles mehr, was mir spontan so einfällt.

Das war total grottig. Zu unstrukturiert! Das hätte besser gemacht werden können. Ach, egal! Es ist nur der erste Tag. Ich darf nicht immer so selbstkritisch sein. Ich habe in meiner ersten richtigen Unterrichtsstunde einen sehr guten Eindruck erwecken können. Da kann es mir egal sein, wie unstrukturiert es war. Die Hauptsache ist, dass mein Zeugnis am Ende glänzt. Nach meiner Präsentation, bei der ich wenigstens die Ärztin dieser Schule vom Wissen her sein könnte, schaut mich Frau Schnitzler schwer beeindruckt an, sowie Ramazan und viele weitere aus der Klasse. Ob der arrogante Bauer auch so guckt, weiß ich nicht und nachschauen werde ich nicht. Pff! Er soll nichts hoffen! "Also ich persönlich bin begeistert von dieser Leistung!" Ich lächele verlegen. Ich liebe diese Frau immer mehr, je öfter sie mein Ego aufplustert! "Hat jemand noch Fragen? Bitte, Can." Wer ist Can? "Meine Frage lautet, ob du mir einen Nerv des Gehirns nennen könntest? Falls du überhaupt welche kennst." Oh mein Gott!

Das ist doch nicht sein Ernst. Wie arrogant! Und wie penetrant! Und dann noch sein provozierender Tonfall. Dieses kleine, überhebliche Arschloch. Er will mich also provozieren? Nicht mit mir! Warte ab, du Köter. "Natürlich kenne ich welche. Ich kenne alle samt Funktionen. Nenn mir doch deinen liebsten Nerven", erwidere ich gespielt freundlich. Meine Augenbraue hebt sich angriffslustig, während ich über den Schädel des Skeletts fahre. Wie ich diese Spielchen liebe. "Aber zurück zur eigentlichen Frage. Ein Nerv wäre der Nervus vagus. Der zehnte Hirnnerv." Mein Lächeln ist mokant. Can heißt du Hässlichkeit also. "Nenn mir den größten Hirnabschnitt!" Ich schmunzele. Er ist hartnäckig. Schon peinlich, was er da versucht. "Gerne. Das Telencephalon, das zufälligerweise auch in zwei Hemisphären und in fünf Lobuli eingeteilt ist. Willst du vielleicht auch noch die Embryologie?", höhne ich. Meine Lehrerin registriert mit ihren angezogenen, grauen Augenbrauen die Spannung zwischen uns. Mein Blick gleitet zu ihm. Er unterschätzt mich und überschätzt sich, dieses überhebliche und arrogante Arschloch. Mit so einen wie ihn würde ich niemals sympathisieren! Lieber sterbe ich!

"Wo liegt-," Die Klingel unterbricht seine Frage und schon grinse ist zufrieden. Tja, war wohl nichts, Can! Das Medizin-Battle habe ich gewonnen. Etwas anderes hätte ich auch nicht auf mir sitzen lassen. Was ein dummer Trottel dieser Typ doch ist. Heute werde ich befriedigt schlafen, während er wahrscheinlich sein verletztes Ego behandeln muss. Mein triumphierendes Lächeln hält sich den ganzen Weg aus dem Raum hinaus. Das erzähle ich den Mädels. Was war auch bitte sein Ziel dahinter? Ist er noch sauer wegen der kleinen Auseinandersetzung? Sollte er. Hoffentlich träumt er noch davon! "Woher weißt du das alles?" Ich erkenne Ramazans Stimme. "Ich interessiere mich schon seit Kind auf für die Medizin", antworte ich schulterzuckend. "Wow! Ich wünschte, ich hätte wenigstens ein Wort verstanden. Jetzt ist Can nicht mehr der einzige Doktor. Na ja, wir sehen uns bestimmt gleich wieder, ciao!" Er zwinkert mir zu. Es fasziniert mich, wie locker und frei er sich in seinem Tun tut. Dafür brauche ich immer eine kleine Weile und ihm gelingt es auf Anhieb. Ramazan läuft einige Türen weiter an unserem Bioraum vorbei, wartet wahrscheinlich auf seinen anderen Freund. Unter anderem mit ihm. Der Arroganz in Person.

Can interessiert sich also auch für Medizin.

ArroganzWhere stories live. Discover now