Kapitel 7

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Mit zittrigen Beinen laufe ich zum Raum H12, wo ich schon meine Freunde sehe, die mit Ramazan und Malik in einer Konversation verwickelt sind. Ich habe ja gesagt, sie werden Ramazan mögen. Malik kann ich noch nicht einschätzen, aber er wirkt gerade nett. Ich laufe auf sie zu, als Malik mich dann bemerkt. "Da ist sie ja!", sagt er und fängt an zu lachen. Wieso lacht der jetzt? "Was ist los?", frage ich, weil ich auch lachen will. "Was los ist? Hast du Aktion von gerade etwa vergessen? Wie du Gorilla geschrien hast?", antwortet Malik mir schon fast pathetisch. "Ach so, ouh, stimmt." Wenn du wüsstest, was danach passiert ist. Ich verdränge das unangenehme Prickeln, welches sich auf meinem Rücken ausbreitet. "Shana du bist der mutigste Mensch, den ich kenne! Ich wünschte, ich hätte es aufgenommen und wie du danach weggerannt bist. Ich hoffe er hat dir nichts getan, sonst werden Malik und ich ihm seinen Gorillaarsch penetrieren!" Ach, das Penetrieren ist auch so eine Sache. "Wir wollen auch wissen was passiert ist", meldet sich nun Viyan zu Wort, mit einem Unterton, der so viel heißt wie: Du hast Scheiße gebaut. Oh Mann, mir ist warm. "Shana hat sich mit Can angelegt und dann ist er ihr hinterher gerannt", beantwortet Ramazan Viyans Frage. Auf einmal gucken mich alle drei Mädchen vielsagend an. "Erzähl ich euch später", flüstere ich. Herr Markus kommt und schließt die Tür auf, bis jetzt keine Spur von Gorilla-Can, zum Glück! "Da ist der Gorilla." Danke, Ramazan! Mit einem mulmigen Gefühl betrete ich den Raum und setze mich so schnell wie möglich hin. Im selben Moment setzt sich er sich auch hin. Eigentlich kann Can mir hier nichts tun, denn er sitzt erstens: in der ersten Reihe und zweitens: ist hier ein Lehrer. Pff, du kannst mir nichts! Unser Thema ist die Interpretation und Analyse. Will der mich verarschen? Wie oft soll ich dieses Thema noch bekommen? Ich hasse dieses Thema! Zwar habe ich immer zweien im Thema Interpretationen geschrieben, aber trotzdem hasse ich es. Wir beginnen mit den Kriterien. Ich fühle mich wie in der Realschule, aber so kriege ich bestimmt leichter gute Noten - hoffentlich. Ich erlaube mir einen Blick auf Can zu werfen und sehe, dass er immer noch angespannt ist, vor allem seine Halsader sticht heraus. Hoffentlich platzt sie!, denke ich mir. Was denkt diese Schäbigkeit, wer er ist, dass er zu mir sagen kann, dass er mir meine Unschuld stehlen kann?! Komm erst an meine Brüder vorbei! Und an meiner Mutter! Sie kann ein Bär sein. Und er ein Gorilla. Cathleen reicht mir ein Blatt wo ein Gedicht von Goethe draufgedruckt ist. Wahrscheinlich sollen wir eine Interpretation und die passende Analyse dazu schreiben. Nach fünfzehn Minuten bin ich schon fertig, was daran gelegen hat, dass ich das Gedicht kenne und mal als Hausaufgabe aufhatte, eine Interpretation darüberzuschreiben. Sofort schnappt sich Cathleen mein Blatt und schreibt ab. Interpretationen waren nie ihr Ding. Ich schaue noch einmal zu Can, um seine Kleidung zu inspizieren: Graues Sweatshirt, betont sehr schön den muskulösen Oberkörper, eine schwarze Hose und schwarze Nike Air Max 90. Nicht schlecht, Herr Specht. "Die Zeit ist um! Wer möchte seine Interpretation vorstellen?" Ich melde mich, ich muss besser werden. Für das Medizinstudium! Auch wenn die Einführungsphase für meinen Numerus Clausus nicht wirklich von Bedeutung ist. "Bitte, Herr El-Zain." Herr Markus siezt uns, was ich irgendwie komisch finde. Der, der dran genommen wurde beginnt zu lesen und nach nicht mal zwei Sekunden erkenne ich Ramazans Stimme. El-Zain also. Ich finde es etwas lustig, dass wir gesiezt werden, nur weil wir in die Oberstufe gehen. Herr Markus nimmt wieder einen dran, diesmal einen Herr Jamil und ich höre auf einmal Cans Stimme. Can Jamil. Seine Interpretation ist relativ gut, aber meine ist besser. Zu guter Letzt darf ich meins vortragen. "Sehr gut, Frau Salih." Danke dir.

Wir haben jetzt eine Stunde Sozialwissenschaften mit ihm. Ich dachte, wir hätten zwei Stunden Deutsch, aber egal. Sozialwissenschaft wird jetzt schon kein Untergang sein. "Ich möchte eine Debatte starten, bei der das Thema lautet, ob Deutschland noch mehr Flüchtlinge aufnehmen sollte, Die Gruppe, die jeweils aus einem Jungen und einem Mädchen bestehen wird, ist einmal für die Flüchtlinge sein und die andere Gruppe dagegen. Möchte jemand freiwillig?" Wenige melden sich, unter anderem Malik, Aleyna, ein Junge, dessen Name ich nicht kenne und meine Wenigkeit. "Frau Salih, welche Seite möchten Sie vertreten?" "Pro", gebe ich knapp von mir. Ich finde es so komisch, dass ich gesiezt werde. "Frau Aksoy, dann vertreten Sie Kontra. Herr Mahir?" "Ebenfalls Pro." Also werde ich mit Malik, an meiner Seite diskutieren. "Dann werden Sie, Herr Blashinski, mit Frau Aksoy debattierten. Ihnen vieren sind die Regeln bekannt?" Von uns gibt es nur ein Nicken. "Dann treten Sie bitte mit Ihren Stühlen nach vorne." Jeder von uns nimmt sich seinen Stuhl und setzt sich mit seinem Partner nebeneinander gegenüber dem gegnerischen Team. Aleyna, die Hündin, beginnt mit dem Eröffnen. Ich schaue missbilligend an ihr vorbei. "Heute werden wir über das Thema Flüchtlinge diskutieren." Wie wäre es, wenn du es erläuterst? Was genau über Flüchtlinge, du Trottel. Ich verdrehe meine Augen. "Ich bin gegen Flüchtlinge, weil es in Deutschland keinen Platz mehr gibt." Das ist ja wohl das billigste Argument, das ich gehört habe! "Das Thema ist sehr disputabel, trotzdem bin ich der Meinung, dass Deutschland noch Flüchtlinge aufnehmen soll. Warum sollte Deutschland kein Platz haben? Hier leben über einundachtzig Millionen Menschen und außerdem ist Deutschland ein reiches und großes Industrieland." So geht das, versuch das zu toppen! "Die können doch kein Deutsch, was sollen sie dann hier?", sagt nun dieser Blashikovski. "Deutschland besitzt Deutschkurse, dort können sie die Amtssprache erlernen", entkräftet Malik sein schwaches Argument. "Und was ist, wenn die Flüchtlinge nicht dahingehen? Sie nehmen den Deutschen die Jobs weg!", sagt Aleyna nun wieder. Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen. "Bevor die Flüchtlinge wirklich in Deutschland leben, sind sie bei der Ausländerbehörde, um sich zu registrieren, dann kriegen sie monatlich Geld zugeteilt, für eine Unterkunft und Essen oder sie gehen ins Heim, was meines Erachtens verständlich ist, da sie sonst auf den Straßen enden. Sie kriegen monatlich Briefe, indem sie zur Behörde gehen müssen. In diesen Briefen steht auch drin, dass sie sich entweder einen festen Arbeitsplatz suchen müssen oder die Sprachschule besuchen sollen. Zu deiner Aussage, dass sie den Deutschen die Arbeit nehmen, kann ich nur sagen, dass das nicht die Schuld der Flüchtlinge ist, sondern der Deutschen oder wer sonst seinen Arbeitsplatz verliert ist. Denn, wenn sie ihre Arbeit nicht richtig praktizieren oder es bessere gibt, die das Geschäft besser laufen lassen, dann ist das reiner, menschlicher Verstand!", gebe ich harsch von mir. Wie kann ein Mensch nur so dumm sein? Es stimmt. Es gibt auch schäbige, asoziale männliche Flüchtlinge, die hier Frauen angaffen, die können von mir aus weg, aber was sie da sagt ist etwas anderes. Sie pauschalisiert es.

"Das sind doch nur alles Terroristen! Was, wenn sie uns hier attackieren, indem sich alle zusammenschließen?" Die will mich doch verarschen. Das ist doch nicht ihr Ernst. Oberstufen-Niveau soll das sein? Was redet sie da für eine Scheiße? Was hat sie für Filme geguckt? "Deine Behauptung ist äußert grotesk und unrealistisch. Nur ein minimaler Bruchteil der Geflüchteten ist möglicherweise eine Bedrohung für Deutschland, da sehr viele, unter anderem Kinder diverse Traumata erlebt haben und viele Frauen dabei sind! Kleine Information am Rande: Deutschland hat bis jetzt jegliche Art an massiven Bedrohungen abgewehrt oder schnell beendet. Zu deiner Aussage, dass alles nur Terroristen seien, du bist gerade in einer Debatte, mit der Tochter, eines vermeidlichen Terroristen! Im Gegenteil! Mein Vater ist aus dem autonomischen-kurdischen Gebiet im Nordirak mit meiner Mutter hierhin geflüchtet, hat sich einen eigenen Laden eröffnet und ist damit erfolgreich, hat die Deutsche Sprache erlernt und hat mir beigebracht dieses Land zu lieben, zu respektieren, es wertzuschätzen! Solche Aussagen sind einfach nur ignorant, weil sich solche Leute, wie Sie, Frau Aksoy suggerieren, indoktrinieren lassen! Und lassen Sie mich noch ergänzen, dass wir - der deutsche Staat -, sich in der NATO befindet. Das heißt, dass, falls wir von einer kleinen Terroristengruppe irgendwann mal angegriffen werden, jedes Land, welches sich in der NATO befindet, verpflichtet ist zu Helfen. Wissen Sie wie viele Länder in der NATO sind? Achtundzwanzig Länder! Siebenundzwanzig Länder sind also da, um uns zu helfen, wenn wir unsere eigenen Truppen beiseitelassen. Wissen Sie wie viele Soldaten das sind? Wie viele Munitionen sie wohl alle besitzen?", sprudelt es nur so aus mir heraus und wenn Malik mich nicht festgehalten hätte, hätten meine sehr stark gestikulierenden Hände ihr Gesicht getroffen. Aber es tat gut es rauszulassen. "Ganz ruhig, du hast sie schon Mundtot gemacht, schlag sie nicht auch noch", flüstert Malik und versucht mich mit einem Lachen zu beruhigen - süß. Ich atme tief durch. Es ist komplett still im Raum. Herr Markus schaut mich verdutzt an. "Ich bezweifle, dass einer von euch noch etwas dazu beitragen möchte." Von den beiden Idioten gegenüber hören ich nicht mal ihre Respiration. Innerlich lobe ich mich für meine Meisterleistung. "Die Debatte ist hiermit beendet", sage ich monoton, begebe mich auf meinen Platz und spüre dabei jeden Blick auf mir. Doch diese interessieren mich nicht. Vor allem Cans leuchtenden Augen. "Ich dachte, du schlägst gleich auf Aleyna ein", kichert Cathleen. "Ich wünschte, ich hätte es getan." Ich kriege einen Zettel zugeworfen, drehe mich um und sehe Ramazan, wie er demonstrativ auf den Zettel zeigt, der auf meinem Tisch gelandet ist.

Du Tier! Ich wollte schon nach vorne rennen, weil ich dachte, dass du sie kaputtschlägst. Nicht dass ich etwas dagegen hätte, wenn du verstehst. Aber du hast das sehr gut gemacht, bin stolz auf dich, BIJI BIJI Shana!

Ich fange an zu kichern, weswegen sich Can umdreht, doch ich beachte nur Ramazan und lächele ihn kopfschüttelnd an. Dieser Junge bringt mich immer zum Lachen.

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Dieses Kapitel ist etwas ernster und meiner Meinung nach etwas informativ. Nicht jedermanns Sache, aber ein bisschen Abwechslung muss bekanntlich sein.

-Helo

ArroganzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt