Tränen über Tränen

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Maxies POV

Die Gebäudekomplexe rauschten an mir vorbei, als ich bei der Fahrt aus dem Fenster sah. So schnell, dass ich sie gar nicht fokussieren konnte. Aber ich konnte mich im Moment sowieso auf nichts konzentrieren. Meine Gedanken zogen, wie die Gebäude, in meinem Kopf vorbei und noch bevor ich sie zu Ende denken konnte, kamen die nächsten. Zayn, mein Bruder, das Krankenhaus. Was würde passieren? Wie würde es in Zukunft weiter gehen? Wie sollte ich diese Frage nur beantworten, ich wusste ja kaum, was in den nächsten 15 Minuten geschehen würde. Meine Gefühle fuhren Achterbahn. Ich war freudig aufgeregt, weil ich meinem Ziel meinen Bruder   gleich näher kommen würde und zugleich angespannt, weil es auch misslingen könnte. Und ich war traurig… wegen Zayn. 

Zum Glück waren wir inzwischen am Krankenhaus angekommen, so musste ich mich nicht mehr mit meinen Gedanken auseinandersetzen, sondern konnte zur Tat schreiten. 

Dachte ich.

Stattdessen standen wir erst mal planlos vor dem Eingang. 

„…Was machen wir jetzt?“ Harry wand sich an Liam und auch ich sah ihn erwartungsvoll an. Dieser versuchte souverän zu wirken, schien aber selbst eher unsicher. „Hm, ich schlage vor wir gehen erst einmal rein und sehen uns um.“ Nicht ganz die Antwort, die ich erwartet hatte, aber okay. Harry lief schnurstracks auf den Informationsschalter im Eingangsbereich zu, doch ich hielt ihn zurück. Die Frau dort war das letzte Mal ziemlich unfreundlich und auch wenig gewillt mir zu helfen. Mit ihr zu sprechen würde uns auf keinen Fall weiterbringen. 

„Dann lasst uns direkt ins Archiv gehen und mit dem Vorsteher dort sprechen“, sagte Liam. Doch es sollte anders kommen. Auf dem Weg dahin – zum Glück standen überall Infotafeln herum auf denen genauestens stand wie man wohin kam – begegneten wir einer jungen Krankenschwester, welche geradezu hyperventilierte, je näher wir ihr kamen. 

Ganz klar, sie erkannte die Jungs. Und Harry nutze die Gelegenheit.

„Hallo Darling.“ Harry machte eine kleine, scherzhafte Verbeugung vor der jungen Krankenschwester und lächelte keck. Oh Gott, dem armen Mädel würde sicher gleich schwarz vor Augen werden. Sie schien kaum noch atmen zu können. 

„H- H- Harry.“ Sie brachte kaum einen Laut hervor.

„Jup, der bin ich. Und wer bist du?“

„Mein Na-, ich- äh Mo- Mona.“

„Was für ein schöner Name.“

Mona hickste vor Freude auf und strahlte ihn an.

„Mona, darf ich dich um etwas bitten?“

„ALLES!“ Sie hickste erneut auf. 

Nervöser Schluckauf. Hatte ich selbst auch manchmal.

„Gut. Also es ist so: Meine Freundin hier braucht ganz dringend etwas aus eurem Archiv. Es geht dabei um Leben und Tod, verstehst du Mona?“ 

Sie blickte sich nervös um und antwortete schüchtern: „Aber… Ich darf da nicht dran gehen. Es tut mir so leid.“ Sie sah Harry schuldbewusst an. Oh je, jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen. Das war ja, als würde man einen Welpen mit der Zeitung schlagen. Liam stupste Harry an. Es behagte ihm nicht hier mitten auf dem Gang zu versuchen eine Krankenschwester zu bestechen.

„Mona, schau mich an. Es wäre mir wirklich sehr sehr wichtig an diese Akte zu kommen. Wir müssen nur einen ganz kurzen Blick reinwerfen. Komm schon“, er beugte sich zu ihr herunter und flüsterte ihr fast schon verführerisch ins Ohr, „so eine kleine Akte tut keinem weh. Du kennst mich doch, ich bin keiner von den bösen Jungs“, sagte er lächelnd. 

Im Ernst, man?

„Du weißt, ich habe nichts Schlimmes damit vor. Das weißt du doch, oder? Oder traust du mir nicht?“

Mona gluckste wieder auf. „Doch natürlich!“ „Na also“, sagte Harry siegessicher und fuhr fort mit, „Du kannst dir gar nicht vorstellen wie dankbar ich dir gerade bin! Vielen Dank!“ Er zog sie in eine Umarmung und ihr hicksen nahm Ausmaße an, die schon nicht mehr normal waren. Naja, würde sie Ohnmächtig werden, wären wir immerhin schon in einem Krankenhaus. 

„Und um dir meine Dankbarkeit zu beweisen dürftest du dir selbstverständlich auch etwas von mir wünschen.“ Ohne ein weiteres Wort sprang sie ihn an und küsste ihn direkt auf den Mund. Vor Schreck konnte sich Harry kaum rühren. Liam und ich sahen einander verwirrt an und blickten dann zu Harry. Dieser hatte sich seinem Schicksal ergeben und machte einfach mit – sie war inzwischen dabei ihm ihre Zunge in den Hals zu stecken. Er sah uns an und zuckte mit den Schultern. 

Als Mona von ihm abließ waren ihre Wangen gerötet und ihr Lächeln so weit wie das der Grinsekatze aus Alice im Wunderland. „Dann lass uns los, hihi“, sagte sie, ergriff Harrys Hand und zog ihn den Flur entlang. Sie war schon fast um die Ecke, bevor ich schnallte, dass sie losgegangen war, doch Liam nahm mich schnell bei der Hand und schleifte mich mit. 

Schwarz. Es war alles geschwärzt. Meine Augen füllten sich mit Tränen, während ich im Hintergrund Monas Geblubber hörte, dass es ihr ja so leid tue, dass Harry nicht sauer auf sie seien solle, sie wusste nicht, dass die Namen geschwärzt sein würden. Liam legte den Arm um mich. „Es tut mir so leid, Maxie. Ich habe keine Vorstellung davon, wie sich das gerade für dich anfühlen muss.“ Ich konnte nicht mehr bei mir halten und brach in Tränen aus. Liam tröstete mich so gut er konnte, doch die Enttäuschung war so groß, dass nichts die Flut meiner Tränen stoppen konnte. Es wäre klüger gewesen das Archiv zu verlassen, bevor wir noch erwischt wurden, doch ich konnte mich einfach nicht bewegen. Ich konnte mich nur an Liam lehnen und seinen Worten lauschen. Seiner Stimme zuzuhören wirkte tatsächlich beruhigend auf mich. „Alles wird wieder gut. Wir finden einen  anderen Weg…“ Liam wiegte mich noch lange in seinen Armen und gerade als ich bereit war mich wieder von ihm zu lösen und vorzuschlagen zu gehen, schrie Harry auf: „Ich hab was!“ 

Er saß auf dem Boden - die gesamte Akte um ihn herum ausgebreitet – und wedelte eines der Papiere durch die Luft. „Man erkennt den Namen. Schaut her!“ 

Dr. C.G. Young. 

Es war schwer zu erkennen, doch es war lesbar. Sie hatten eine Stelle übersehen. Unglaublich.

„Harry“, völlig verdattert wand ich mich ihm zu, „Ich…“, doch ich konnte gar nicht weiter sprechen, da ich erneut in Tränen ausbrach. Er hatte die gesamte Akte gelesen und tatsächlich die eine Stelle gefunden, bei der die Leute, die den Text schwärzen sollten, gepatzt hatten. „Danke“, stieß ich unter schluchzen hervor. Ich zitterte, als ich Harry in meine Arme zog und so feste umarmte, wie ich nie zuvor jemanden umarmt hatte. 

„Und Harry rettet mal wieder den Tag“, scherzte er. Doch er tat nur so flapsig. Ich sah wie sehr ihn mein Gefühlsausbruch ergriff. Er erwiderte meine Umarmung und strich mir über den Kopf, während ich das zweite Mal innerhalb von ca. einer Stunde die krasseste Heulattacke meines Lebens hatte. 

„Bald haben wir ihn, Sweetheart“, flüsterte Harry mir ins Ohr und ohne es zu sehen wusste ich, dass er ebenso über das ganze Gesicht strahlte wie ich.

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