Teil26

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Rufus hatte mitbekommen, dass das Telefongespräch nicht gerade erfreulich war und ihm wurde immer klarer, dass die nächsten vierzehn Tage ihn und Jeremy auf eine harte Probe stellen würden. Als er in die Küche kam, wartete Jeremy mit dem Frühstück oder auch den Resten von gestern Abend. Er gab ihm einen Tee und lächelte, weil er gar nicht anders konnte, wenn er Rufus sah. „Sag mal, kaufst du nie so ganz normale Sachen ein? Sowas wie Butter, Eier, Zucker, Mehl?"

Rufus schüttelte etwas verschämt den Kopf. „Nein, sorry. Aber das können wir machen, wenn du willst." 

„Cool. Also wenn du magst, dann kann ich Pfannkuchen zum Frühstück machen oder so."

„Klingt fantastisch."

„Und irgendwann möchte ich mit dir ausgehen. So richtig."

„Klingt auch fantastisch." Rufus lächelte und war dankbar, dass Jeremy ihn nicht mit schlechten Nachrichten überfallen wollte, aber irgendwann müsste er es ja doch erfahren. Er stellte den Tee ab und sah Jeremy fragend an. Der verstand sofort. „Peter, so heißt mein Manager, möchte dich kennenlernen. Er sagt, wir müssen einen Plan entwickeln, weil man uns gesehen hat." Jeremy wartete wohl auf eine Reaktion und Rufus schnaubte verächtlich: „Natürlich hat man uns gesehen. Wir haben uns ja auch nicht versteckt. Das ist es, was wir jetzt tun sollen."

„Wenn du es sagst, dann machen wir es nicht." Jeremy sah das wirklich so.

„Nein... das habe ich nicht gemeint. Ich bin nur... genervt. Wir schaffen das."

„Ich weiß. Geht mir nicht anders." Jeremy sah aus, als wolle er noch etwas sagen, wüsste aber nicht wie.

„Jeremy, Liebster, egal, was es ist, du kannst mir alles sagen und du kannst auch alles fragen. Ich habe vor dir keine Geheimnisse."

„Es ist nur so, dass...", Jeremy suchte jetzt tatsächlich nach Worten, „du mich ... immer wieder überraschst. Du bist bereit, das alles mitzumachen, obwohl es falsch ist und es dich...quält, weil du nicht mal verstehst, wie die Menschen so sein können, für die wir das alles tun sollen..."

„Weil es ist, wie ich gesagt habe. Es ändert nichts zwischen uns. Ich will dich, weil ich dich liebe. Alles andere ist nicht wichtig. Sag mir, was ich da tun soll und ich tu's."

„Ich weiß es doch auch nicht. Ich hasse es nur, dass es ...wieder so ist." 

Wieder?

„Warum sagst du wieder? Wann war es denn schon einmal so? Wovon redest du?" Rufus sprach leise, aber er war jetzt wirklich alarmiert. Die ganze Sache würde weniger ihm, als Jeremy selbst wehtun. Aber was steckte da dahinter?

„Ich rede von... den ganzen Lügen. Wenn man diesen Mist mitmacht, dann macht es einen fertig. Das ist es doch nicht, was du oder ich wollen!" Jeremy sah ihm jetzt eindringlich in die Augen und wieder war da etwas in Jeremys sturmblauen Augen, das Rufus nicht fassen konnte. Das waren wieder die Tränen, die nicht kamen, obwohl es besser wäre, wenn sie es täten.

„Nein. Natürlich wollen wir das nicht... Sagst du mir, was du erlebt hast?" Rufus machte seine Stimme ganz klein, wie um Jeremy nicht zu erschrecken, doch er wollte jetzt wissen, worum es ging.

Jeremy schaute erst irritiert, so als verstünde er die Frage nicht, aber dann begann er langsam zu sprechen. „Damals, als wir die Gewissheit hatten, dass David sterben würde, da... bat er mich, es seinen Eltern nicht zu sagen." Jeremy sah jetzt wieder so aus, als erwarte er irgendeine Reaktion, also nahm Rufus seine Hand, damit er weiter sprach. „Sie... hielten uns sowieso für ... widerliche Perverse und er hätte es nicht ertragen, wenn sie ihn so... schwach gesehen hätten. Also...sagten wir es nicht, wir... zogen es allein durch... bis zum Schluss. Wir erzählten irgendwelche Lügen, warum er nicht zur Arbeit ging, warum wir den Wagen verkauften, warum ich Konzertangebote ausschlug ... und all das, weil seine Eltern die Wahrheit nicht erkennen würden. Er starb, weil es für diese fürchterliche Krankheit kein Heilmittel gab. Und er hatte sie, nicht weil er pervers war, sondern weil das Leben manchmal so verflucht unfair ist."

Rufus war fassungslos. Nie hätte er geahnt, dass Jeremy durch eine solche Hölle gegangen war. Allein hatte er gesagt. Wie furchtbar. „Was ist mit... deiner Familie? Haben sie dir nicht geholfen?"

„Meine Familie?!", es klang geradezu verächtlich, wie er das aussprach. „Ru, du hast keine Ahnung, wozu Menschen fähig sind. Als ich meinem Vater sagte, dass ich mit David zusammen war, dass wir ein Paar wären, da sagte er nichts zu mir und starrte mich nur an. Ich wusste längst, dass er es nicht verstehen konnte, aber damit hatte selbst ich nicht gerechnet. Meine Mutter kam dazu und warf mir vor, dass ich mich nicht schämen würde. Dann wies sie mich vor die Tür. Da war ich neunzehn und ich habe seitdem weder ein Wort mit ihnen gesprochen noch einen Fuß in ihr Haus gesetzt. Ich habe keine Familie mehr. David war meine Familie."

„Das tut mir so leid", flüsterte Rufus und meinte es so, wörtlich.

„Das muss es nicht. Ich empfinde da schon längst nichts mehr. Da ist eben nichts, wo mal etwas war." Die seltsame Tonlosigkeit in Jeremys Stimme war kaum zu ertragen und Rufus hätte viel dafür gegeben, wenn ihm ein paar tröstende Worte eingefallen wären, aber er war einfach zu wenig vorbereitet, auf so etwas.

„Meinst du nicht, dass sie sich irgendwo nach dir erkundigt haben oder wissen, was passiert ist?" Wäre doch möglich, wäre das, was man annehmen sollte, denn Jeremy war ihr Sohn.

„Nein. Ganz sicher nicht. Eher glauben die, dass es uns beide erwischt hat. Ich sagte doch, es wäre nur wahrscheinlich gewesen."

„Aber so ist es nicht", sagte Rufus jetzt und nahm Jeremys Hände, um sie zu küssen, „du lebst und du bist hier bei mir."

Jeremy schaute ihn nur an, noch immer ohne Tränen. „Magst du mal ... ein Foto sehen?", schlug er dann vorsichtig vor. Rufus war erleichtert über den Themawechsel. Ja das würde er gern.

„Ja sicher, zeig mal." Er setzte sich jetzt neben Jeremy, der anfing in seiner Brieftasche zu kramen. Natürlich wäre da ein Foto von David.

„Hier, das ist von vorher." Jeremy zog es langsam hervor und schob es zu Rufus herüber. Es zeigte Jeremy, um einige Jahre jünger und David, zusammen in einem Kajak. David, vorn, war ein attraktiver, blonder Typ mit Bandana und einer Tätowierung an beiden Unterarmen. Jeremy war hinten und sie trugen beide Tour T-Shirts von Black Sabbath. 

„Wow", das galt dem Typen und „ihr seht glücklich aus", fand Rufus.

„Oh ja. Das war am Lake Winnipesaukee. David war so eine echte Wasserratte."

„Und du stehst auf Black Sabbath?"

„Wir beide. Die waren echt gut damals."

„Er sieht aus, als hätte er Spaß und er war bestimmt stolz auf dich." Wenn das das Lieblingsfoto war, dann war das einer der Gründe dafür. „Danke, dass ich es sehen durfte."

„Ja sicher. Finde ich auch gut, dass du es jetzt kennst."

Jeremy lächelte ein wenig und steckte es wieder ein.

„Sind wir so weit, für die Höhle des Löwen?", fragte Rufus dann. Es war höchste Zeit für den Termin im Royal Opera House, wenn er pünktlich im Theater sein wollte.

„Wenn du es bist, von mir aus kann's losgehen." Jeremy warf sich in die Motorradjacke. 

No lies, keine LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt