Teil75

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Jeremy hatte die Orientierung verloren. Er war irgendwo, er war irgendwie dahin gekommen und er hatte keine Idee, wie lange er bewusstlos gewesen war. Der pochende Schmerz in seinem Schädel erinnerte ihn sofort daran, dass ihn jemand niedergeschlagen hatte und ein dumpfer Schmerz in seiner Schulter verriet, dass er hart aufgeschlagen sein musste. Er öffnete langsam die Augen und musste feststellen, dass eins davon, das linke, mit Blut verkrustet war, das offenbar von einer Platzwunde an der Schläfe herunter geronnen war. Er konnte die Hände nicht bewegen, um das Blut abzuwischen. Jemand hatte ihm das Jackett ausgezogen und sie mit Klebeband hinter dem Rücken fixiert. Auch, stellte er fest, dass seine Waden zusammengeklebt waren. Irgendjemand hatte sich große Mühe gegeben, ihn so zu fixieren. Er zerrte an dem Klebeband, das seine Handgelenke umschloss, aber es grub sich nur tiefer und schmerzhaft ins Fleisch. Er schaute sich mit dem offenen Auge um, konnte aber nicht viel erkennen. Der Kopfschmerz trübte sein Sehvermögen. Er ächzte und versuchte, sich aufzurichten. Er lag auf irgendeiner alten Matratze an der Wand, offenbar in irgendeinem kleinen, kalten Raum ohne Fenster. In der gegenüberliegenden Ecke des Raums stand eine Nachttischlampe auf der Erde, die den kleinen Raum notdürftig beleuchtete. Wer auch immer ihn hierher gebracht hatte, wollte nicht, dass er vollends in Panik geriet. Jeremy richtete sich mit dem Rücken gegen die Wand etwas auf. Das half ein wenig gegen das Schwindelgefühl. Hilflos, orientierungslos, Gehirnerschütterung, kam ihm in den Sinn. Er war nicht geknebelt. Das war entweder eine Vorsichtsmaßnahme, damit er nicht versehentlich erstickte oder nicht notwendig, weil man ihn aus diesem fensterlosen Loch nicht hören würde. „Ist da wer?", rief er trotzdem. Vielleicht war es klug, wenn er sich bemerkbar machte. Wenn sein Entführer herein käme, wüsste Jeremy wenigstens, mit wem er es zu tun hatte. Vielleicht wäre es auch unklug, wenn er den oder die Typen damit verärgern würde. Ohne Schlag auf den Schädel hätte er natürlich gewusst, dass es nur Oliver oder ein Helfershelfer sein könnte und in dem Fall könnte er wohl kaum noch größeren Schaden anrichten. „Ist da wer? Dammit! Zeig dich, du feige Sau!" Er horchte, um herauszufinden, ob er irgendwas oder irgendwen hören konnte, aber da war nicht das leiseste Geräusch. Er spürte plötzlich, wie selbst das Rufen ihm Schwindel und Übelkeit bereitete. Das war wirklich absolut ungut. Besser wäre es, die Kräfte zu schonen, für den Fall, dass er sie noch nötig hätte. Und er würde sie wohl sehr nötig haben, wenn er das hier überstehen wollte. Warum, zum Teufel, hatte man ihn hierhergeschleppt? Warum war jetzt niemand da? Was sollte das Ganze? Jeremy versuchte, sich einen Reim darauf zu machen. Wenn er hier war und relativ unverletzt und allein, dann war er vielleicht ein Pfand oder ein Druckmittel? Diese Gedanke brachte ihn endlich zu der Erkenntnis, dass er den Entführer kannte. Ja, natürlich, der Ex von Ru, dieser O-l-i-v-e-r! FUCK!!! War dieser Oliver gerade dabei irgendwelche Bedingungen oder Forderungen für seine Freilassung zu stellen? Was könnte er wollen, jetzt, wo die Preisverleihung ihm kein Druckmittel mehr war? Vielleicht wollte er, dass die Polizei ihn gehen ließ, irgendwohin, außer Landes, mit einem neuen Pass? Vielleicht wollte er genug Geld aus dem Sommerford Vermögen, um ein neues Leben anzufangen? Aber wenn er auf der gleichen, teuren Schule war wie Rufus und einen Luxuswagen fuhr, dann konnte es nicht um Geld gehen. Mit einem Mal traf es Jeremy mit voller Wucht. Ru hatte es angedeutet: Der Typ wollte Rufus! Aber hätte er dann nicht gleich Rufus entführt und nicht ihn? Besser mich, als ihn... Denk nach, Jeremy, denk nach... wieso bin ich hier, was soll das...? In Jeremys Kopf begann alles, sich zu drehen. Das letzte, was er jetzt brauchte war, keinen klaren Kopf zu haben. Also versuchte er ruhig zu atmen, ein und aus, bis er sich etwas klarer fühlte. Woran konnte er sich erinnern? Da war der Fototermin und die Typen von der Presse. War einer von denen Oliver? Jeremy könnte es nicht sagen. Aber einer von denen, die zuletzt noch ein Interview wollten, musste ihn niedergeschlagen haben. Er rollte ein wenig hin und her, um aus seinen Hosentaschen zu schütten, was auch immer darin war. Vielleicht könnte er irgendwas davon gebrauchen. Er hatte nicht angenommen, dass sein Handy noch da wäre, aber er fand ein Taschentuch, seinen Ausweis, Kreditkarte, ein Kondom und -wie kam das da herein? - ein Himbeerkaugummi. Das konnte nur von Rufus sein. Wahrscheinlich hatte er es ihm in der Umkleidekabine zugesteckt. Jeremy wäre zum Lachen gewesen, wenn ihm nicht eher zum Heulen gewesen wäre. Er beschloss, das Kaugummi aufzuheben bis... für den Fall, dass er etwas brauchte, dass ihn an Rufus erinnerte. Für den Fall, dass er es nicht hier heraus schaffte. Für den Fall, dass er sonst den Verstand verlieren würde... Ihm wurde kalt. Das war der Kreislauf und vielleicht ein Hinweis darauf, dass es inzwischen tiefe Nacht war. Er rollte sich auf der alten Matratze so gut es ging zusammen und nahm sich vor, alles auszuhalten, wenn es sein musste. Er würde sich nicht so leicht klein kriegen lassen. Er würde durchhalten, bis er wieder mit Rufus zusammen sein konnte. Egal wie. Irgendwann, vielleicht Stunden später, fiel er aus Erschöpfung endlich in einen unruhigen Schlaf.

No lies, keine LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt