Teil74

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Vom Rest der Gala bekam Rufus kaum etwas mit. Dafür war er viel zu glücklich und euphorisiert. Das Orchester spielte „Land of Hope and Glory", aber das fiel ihm erst viel später wieder ein. Erst als die letzte Musik verstummt und der letzte Curtain Call vorbei war, ging das Licht wieder an und Rufus blickte in die Gesichter von Richard, Peter und auch June. Sie musste irgendwann während des Applauses auf ihren Platz gekommen sein. Aber wo war dann Jeremy?! Der schemenhafte Typ im Rang war das Erste, was Ru jetzt in den Sinn kam. Was, wenn das doch Oliver war? Unsinn, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Du bist nicht einer von diesen Boyfriends, die gleich ausrasten, nur weil sie nicht immer genau wissen, wo der andere ist. Er schaute in die Richtung, von wo Jeremy vorhin gekommen war. Sehen konnte er ihn nirgends. „June, wo ist Jem? Wart ihr nicht zusammen bei den Fotografen?"

Sie schaute direkt etwas irritiert. Hatte er schon so paranoid geklungen, wie er sich gerade fühlte?

„Der muss jeden Moment kommen. Die wollten noch ein kurzes Interview wegen eures Outings."

Wer waren die? Wie konnte sie Jeremy allein lassen? Rufus hielt es nicht aus. Er war schon aufgestanden und bat um Entschuldigung. „Ich geh ihn holen", sagte er und machte sich auf hinter die Bühne. Irgendjemand von der Security trat ihm entgegen, erkannte ihn dann aber und ließ ihn passieren. „Kann ich Ihnen helfen, Sir?", rief der ihm noch nach, aber Rufus ging ohne zu reagieren schneller weiter. Da waren noch mehr Leute. Security und Pressetypen, ein paar Orchestermusiker, aber kein Jeremy. „Wo sind die Fotografen und die Interviews?", fragte Rufus den nächsten Typen, den er sah. Der Mann zeigte in eine Richtung und meinte, es sei gleich hinter der nächsten Tür rechts. „Danke", murmelte Rufus und unterdrückte den Impuls, jetzt laut nach Jeremy zu rufen. Die Leute, die hier herumliefen, waren alle bereits dabei, die Halle zu verlassen, das sah nicht so aus, als wären da irgendwo noch Interviews... „Sir, kann ich Ihnen helfen?", fragte jemand. „Der Presseraum, ist da noch wer?" Rufus hielt nicht an. Also kam der Mann hinter ihm her. „Ich glaube nicht, Sir. Da ist schon Licht aus." 

FUCK!

Rufus hatte jetzt die Tür erreicht und öffnete. Nichts. Es war dunkel und als Rufus das Licht anschaltete, war da ein leerer Raum mit ein paar Stühlen und Stehtischen mit leeren Champagnergläsern. Eine kleine mit Blumen geschmückte Bühne mit dunkelrotem Vorhang und dem Logo der Gala war sicherlich der Platz für die Fotos gewesen. „Sir, hier ist niemand mehr", sagte der Mann vom Gang, der ihm gefolgt war. „Ich suche Jeremy Harrison, den großen Amerikaner. Haben Sie ihn gesehen? Ist er schon gegangen?"

Der Mann schaute überrascht. „Nein, nicht, dass ich wüsste. Er war vorhin hier..."

Das war seltsam. Wenn Jeremy gegangen wäre, dann doch zuerst zu ihm, auf seinen Platz, so wie June. Rufus ließ den Mann stehen und ging auf die kleine Bühne. „Jem?", rief er jetzt schließlich doch. Aber es kam keine Antwort. Er schaute hinter den Vorhang. Da war es zu dunkel. „Gehen Sie und schauen Sie nach, ob Mister Harrison vorn bei meinem Bruder und den anderen ist", wies er den Mann an.

„Ihr Bruder?"

„Der Duke of Sommerford St. Aubyn."

Das reichte wohl als Information und der Typ machte sich sogleich auf den Weg. Ohne Zögern holte Rufus sein Handy heraus und leuchtete mit der Taschenlampen- App hinter den Vorhang. Da lag etwas Reflektierendes am Boden. Rufus hielt vor Anspannung die Luft an. Er ging näher heran und tatsächlich lag da die Trophäe, der Notenschlüssel, am Boden. Rufus hob ihn auf und ließ ihn vor Entsetzten gleich wieder fallen, denn es war Blut daran. „Shit", fluchte er und taumelte, denn ihm war sofort schlecht. Blut. Jeremys Preis, mit Jeremys Blut. Er versuchte, sich zusammenzureißen und ruhig zu atmen. Auf dem Boden war keine Blutlache, also war Jeremy nicht so schwer verletzt, dass er stark blutete. Aber da waren ein paar Tropfen. Rufus ging in die Richtung, die sich andeutete und fand einen nächsten Tropfen und noch einen. Die Spur führte in eine Abstellkammer für Putzgerätschaften und dort stand ein Fenster weit offen. Zeus! Rufus stieg eilig aus dem Fenster und fand sich in einer kleinen Gasse wieder, die offensichtlich von Lieferanten und Personal benutzt wurde. Von Jeremy oder seinem Entführer aber fehlte jede weitere Spur. Was sollte er jetzt tun? Auf Richard und die anderen warten? Zurückgehen, die Polizei holen? Wo waren die Bodyguard- Frauen? Rufus bemerkte nicht, wie sein Atem jetzt aufgeregt und stoßweise ging, ihm wurde kalt und er wurde wütend. Wie konnte das passieren! „Wenn du Jeremy auch nur ein Haar krümmst, bringe ich dich um", flüsterte er bei sich. Da bemerkt er, wie sein Handy plötzlich summte. War das Jeremy? Er holte es aufgeregt aus der Hosentasche. Da war eine WhatsApp Nachricht von Jem! „Versuch keinen Scheiß. Dein Yankee schläft. Brompton Trinity. BMW." Rufus erstarrte vor Entsetzten. Natürlich konnte das nur von Oliver kommen und der schreckte offenbar vor nichts zurück. Immerhin bedeutete das, dass Jeremy am Leben war und Oliver Rufus womöglich eine Chance gab, ihn zu retten. Er konnte sich denken, worum es dabei ging, aber das spielte jetzt keine Rolle. Ohne weitere Überlegung machte sich Rufus auf den Weg zur Brompton Trinity Church, die nicht weit von der Albert Hall war. Oliver wusste von früher, dass er sich dort auskannte und sicher würde er dort einen weiteren Hinweis finden. Ohne Zeit zu verlieren nahm Rufus im Dunkeln den kürzesten Weg durch den Prince's Garden, kurz entlang der Mews zu den Oratory Gardens, die bereits zur Kirche gehörten. Es dauerte kaum länger als sechs oder sieben Minuten. Hinter der Kirche war ein Parkplatz für die Besucher und dort stand an einem Laternenpfahl eine BMW Maschine. Sie war nicht angeschlossen und der Schlüssel steckte. Rufus holte tief Luft. Wohin sollte er damit fahren und was erwartete ihn dort? Er holte sein Handy hervor. Da war keine neue Nachricht. Es wäre wohl auch zu riskant, von Jeremys Handy zu kommunizieren. Das ließe sich per GPS orten und Oliver würde das Risiko bestimmt kein zweites Mal eingehen. Rufus sah sich um und da entdeckte er an dem Laternenpfahl eine frisch mit Edding geschriebene Telefonnummer. Er wählte und hielt den Atem an. Das ist Wahnsinn, was mache ich nur...? Plötzlich ein Klicken und dann eine immer noch nur zu gut bekannte, arrogante Stimme: „Hey Posh Boy, ich wusste, du würdest darauf kommen!" Rufus stieß mit Mühe ein „Oliver" hervor. Sein Hals war trocken und verkrampft und er wünschte, es wäre nicht so, aber er bekam Angst, weniger um sich selbst, als um Jeremy. „Warum machst du das? Was soll das?" Er fluchte innerlich. Seine Worte mussten die Angst verraten haben und wenn jetzt eines nicht hilfreich war, dann Oliver gegenüber Angst zu zeigen. „Die Polizei und die Security meines Bruders suchen dich. Die werden dich bald finden und wenn du Jeremy etwas tust, dann wird es nur ernster für dich..."

„Ja, ja", säuselte Oliver, beinahe gelangweilt, bevor er plötzlich bedrohlich klang. „Beweg deinen süßen Arsch hierher zu mir und hör auf zu heulen."

Rufus schluckte schwer. „Wohin?"

„Kensal Green. Ich warte nicht ewig." Dann war das Gespräch weg.

Rufus merkte, wie seine Knie weich wurden. Verdammt. Er holte tief Luft, dann setzte er das Motorrad in Gang und fuhr los.

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now