Teil63

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Rufus war klar, dass sich sein Bruder Sorgen machte und noch größere Sorgen machen würde, sobald er von den neusten Entwicklungen erfuhr. Also beschloss er, es so knapp wie möglich zu schildern und so ungerührt wie nur irgend möglich zu klingen. Bedauerlicherweise nahmen sich beide Brüder in dieser Hinsicht überhaupt nichts und durchschauten die jeweilige Taktik nur zu gut. Richards Stimme am anderen Ende der Leitung klang beinahe gelangweilt, was natürlich bedeutete, dass er völlig außer sich war und nur Rufus nicht weiter beunruhigen wollte.

„Dir ist doch klar, dass ein Wachmann jetzt unumgänglich ist?" Richard schien ein Gähnen zu unterdrücken.

„Ich halte das für reine Geldverschwendung", fand Rufus ganz beiläufig.

„Ach, tifftaff, ein Freund im Club hat mir da neulich einen Service empfohlen, die Leute wirst du gar nicht bemerken. Und diesen blauen Jaguar finden die innerhalb kürzester Zeit."

„Du hältst unsere Polizei für so inkompetent?"

„Wie nennst du das sonst? Die sind da schon seit Tagen dran und ohne Ergebnis. Und ich habe keine Lust, dich zu sehen, wenn du gestresst bist."

„Ich bin nicht gestresst, ich bin nur etwas genervt. Die ganze Unordnung oben und ständig Leute im Haus."

„Dann lass das die Profis regeln. Und wir sehen uns am Samstag."

„Bist du sicher, dass du dir das antun willst? So eine Preiszeremonie ist lang."

„Ja, ich weiß, aber was tut man nicht alles für die Kunst. Und ich möchte noch was anderes mit dir besprechen."

„Was denn noch? Kann das nicht warten?" Rufus war natürlich klar, dass es das kaum konnte, wenn Richard es so nebenbei erwähnte. Er würde es nicht am Telefon besprechen, also war es wichtig.

„Ja schon, aber dann haben wir es hinter uns." Wieder das halb unterdrückte Gähnen. Und natürlich bemerkte Rufus, wenn so etwas nur gespielt war. Wenn Richard das versuchte, dann war das was er besprechen wollte richtig wichtig.

„Na wenn's denn sein muss. Mach's gut, bis dann, Rick."

„Bis dann, kleiner Bruder."

Rufus beendete das Gespräch gerade in dem Moment, als Jeremy wieder nach unten kam. Er schaute neugierig.

„Wir kriegen Personenschutz", meinte Rufus beiläufig.

„Was? Wieso das denn? Hast du nicht versucht, ihm das auszureden?"

„Das funktioniert kein drittes Mal. Und es ist auch besser so, bevor dir was passiert. Und er kommt am Samstag. Da ist irgendeine Familiensache, die nicht warten kann."

Jeremy wunderte sich kurz, denn das Telefonat hatte nicht gerade aufgeregt geklungen.

„Du und dein Bruder, ihr habt das mit dem britischen Understatement echt drauf, stimmt's?"

Rufus verneinte nicht. Logisch, dass Jeremy das auch schon durchschaut hatte. „Du kennst mich zu gut", bemerkte er und gab Jeremy einen Kuss auf die Wange. Aber da war noch etwas, was Rufus erst jetzt bemerkte. Irgendwas von dem, was er gerade gesagt hatte, machte Jeremy nachdenklich...nein, sogar etwas traurig. Was hatte er gesagt? Personenschutz, Familiensache...Familiensache! Zeus! Rufus konnte sich jetzt denken, was das Problem war. Er hatte Rückendeckung in seiner Familie, egal, um was es ging und Jeremy musste natürlich daran denken, dass es bei ihm nicht so war. Was waren das nur für Leute, die jemanden wie Jeremy aus ihrem Kreis ausschlossen?

„Hör mal, Jem", begann Rufus jetzt und trat dichter an Jeremy heran und legte ihm eine Hand an die Wange. Jeremy war kurz irritiert, weil er merkte, dass es nicht auf einen Kuss hinauslief, sondern auf etwas anderes. „Was ist?", fragte er leise und schaute Rufus in die hellen Augen.

„Warum versuchst du nicht, deine Eltern anzurufen?", sprach Ru ganz sachte und suchte nach Worten, „Vielleicht sind die gar nicht mehr so..."

„So was?" Jeremy klang alarmiert.

„Na... verständnislos? Spießig? Lieblos? Dumm? Such dir was aus, es passt alles."

„Sie würden sagen, dass sie traditionell sind", ergänzte Jeremy in seltsam tonloser Stimme.

„Ist 'ne tolle Tradition, den eigenen Sohn auszugrenzen." Kaum hatte Rufus das so gesagt, da tat es ihm auch schon leid, denn Jeremy wurde nur trauriger davon.

„Jem, bitte verzeih, ich weiß nicht, warum ich darüber rede, ich merke nur, wie sehr es dich anfrisst" begann er entschuldigend. 

Jeremy schüttelte den Kopf. „Da ist nichts, was ich dir verzeihen muss. Du kannst das nicht verstehen, weil du privilegiert aufgewachsen bist und weil deine Familie dich immer geliebt hat."

„Wie soll das auch irgendwer begreifen. Du bist der wunderbarste Mensch, den ich kenne und trotzdem behandelt dich deine Familie als wärst du aussätzig."

„Für die bin ich das."

„Das ist doch Wahnsinn!" Rufus musste einsehen, dass es keinen Sinn hätte, auf Unterstützung von solchen Menschen zu hoffen, aber verstehen konnte er es wirklich nicht. „Die müssen doch stolz auf dich sein, du bist ein Opernsänger mit einer fantastischen Karriere, du bist ein sensibler, liebevoller Mensch und du bist mutig und stark."

Jeremy schüttelte den Kopf und legte Rufus einen Finger über die Lippen. „Bitte hör auf", bat er, „das alles mag so sein, aber das macht keinen Unterschied. Auch wenn mich dieser Stein getroffen hätte, wäre das egal, denn für die bin ich schon vor Jahren gestorben. Ich hatte die Wahl zwischen mir und David oder ihnen. Diese Wahl habe ich getroffen. Und ich habe sie nicht bereut, denn so bin ich hierhergekommen, zu dir. Du bist meine Familie." Jeremy schaute jetzt weniger traurig und wirkte entschlossen und seiner Sache sicher. Rufus zog ihn einfach in seine Arme, sodass Jeremy ihm seinen Kopf an die Schulter legte. Er schmiegte sich einfach an ihn und hielt ihn fest. „Das stimmt nicht ganz", flüsterte er dann, „mein Bruder, seine Frau und die Mädchen sind es auch."

Jeremy konnte das gar nicht so glauben, was sein Liebster da sagte. „Die kennen mich doch kaum", wandte er ein, doch Rufus hielt ihn einfach noch fester. „Das ist egal", flüsterte er wieder, „du gehörst zu mir."

Jeremy schloss die Augen und konzentrierte sich einfach nur auf Rufus, der ihn hielt und den Klang seiner Stimme. Er war es gewohnt, immer stark sein zu müssen, denn seit Davids Tod hatte er sich auf niemanden mehr verlassen und jetzt tat es unglaublich gut, auch einmal zulassen zu dürfen, dass ihn seine Trauer um seine verlorene Familie einholte. Es erstaunte ihn, was diese kurze Zeit mit Rufus schon alles in ihm bewirkt hatte und es kam ihm vor, als würde eine riesige Last von seinen Schultern fallen. Er hatte jemanden gefunden, dem er nichts vormachen müsste. Jemanden, der zu ihm hielt und der ihn spüren ließ, dass er lebendig war. Er begann, sich zu entspannen und da hob er den Blick zu Rufus und sah, wie er ihn anlächelte. „Wieder gut?", fragte er nur leise.

„Ja, wieder gut", antwortete Jeremy.

„Schön", fand Rufus und lächelte noch mehr. „Was hältst du davon, wenn wir das alles hier Mrs. Robins und dem Glaser überlassen, in der Stadt mein Motorrad holen und nach Sommerford fahren. Du musst erst morgen Nachmittag zurück sein, wir besuchen meine Familie und wir müssen uns da um nichts kümmern."

Jeremy gefiel die Idee so gut, dass er auch lächelte. „Das klingt toll."

"Okay, komm suchen wir ein bisschen Zeug zusammen und dann geht's los."

Die Idee war richtig gut. Jeremy hätte keine große Lust, den Rest vom Tag den Staubsauger und die Arbeiten am Fenster und wer weiß was noch zu ertragen. Und dann war da natürlich noch das Allerbeste: „Da kann ich mich richtig gut um dich kümmern", fiel ihm ein.

Rufus war klar, was er meinte. „Oh, aber ich bitte darum."

Dann begannen sie sofort damit, ihren Plan umzusetzen.

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now