Teil82

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Auf dem Weg zurück ins Zimmer sprach keiner von beiden ein Wort. Der Eindruck dessen, was gesagt und gehört wurde, also passiert war, war zu unmittelbar. Jeremy war übel. Er hatte den Biss gesehen und in seinem Kopf formte sich ein Bild von Oliver und Rufus, dem was Oliver ihm angetan hatte. Jeremy hasste sich selbst dafür. Er wusste, dass Oliver Rufus gezwungen hatte, dass es niemals freiwillig geschehen wäre. Und er hasste sich dafür, dass es seinetwegen geschehen war.

Rufus fühlte sich völlig leer. Was da vorgefallen war, war anders als alles bisher Dagewesene. Er kannte schlechten Sex und er kannte Schmerz, aber dass Oliver beides regelrecht genießen würde und Rufus nichts dagegen tun konnte, schien völlig irreal. Wie konnte es nach all den Jahren passieren, dass er diesem Widerling in die Hände fiel? Er hatte es für Jeremy getan, aber ohne im Entferntesten zu ahnen, wie alptraumhaft es für ihn selbst werden würde. Und noch schlimmer: Er bekam die Vorstellung nicht aus dem Kopf, wieder ein Opfer zu sein. Wie war das nur möglich? Jetzt noch? Irgendwie hatte er geglaubt, er hätte alles längst hinter sich gelassen und der Missbrauch in jungen Jahren, wäre nur möglich gewesen, weil er zu jung und unerfahren war. Das war er nun schon längst nicht mehr...

Als sich die Zimmertür hinter ihnen schloss, war es Jeremy, der Rufus bei der Hand nahm und ihn in seine Arme zog. Er spürte, wie der junge Mann gleichzeitig versteifte und zu zittern begann. Dann schienen auch seine Beine zu versagen. Jeremy hielt ihn umso fester und führte ihn sachte zu einem der Betten. „Schht schht," versuchte er ihn zu beruhigen, „leg dich hin, ich bin da."

Rufus nickte und ließ sich still ins Bett helfen.

„Kann ich zu dir kommen?"

„Ja, sicher."

Jeremy empfand Erleichterung. Wenigstens hatte sich zwischen ihnen nichts geändert. Er legte sich neben Rufus und zog ihn in seine Arme. Er zitterte immer noch. „Es wird alles wieder gut", versprach Jeremy.

Rufus hob den Kopf und sah ihn an. „Wie? Wie kann das wieder gut werden?"

Jem erschrak über die Frage und den ernsten Ausdruck in Rus Augen. „Das wird es. Wir sind zusammen und wir lieben uns."

„Aber", begann Rufus und wirkte noch verletzlicher als er ohnehin war, „ich habe mich nicht an unsere... Abmachung gehalten."

Jem musste überlegen. Was meinte er nur? „Welche Abmachung?"

„Du hast gesagt, ich solle nichts tun, als ich gesagt habe, wir würden Oliver loswerden, wenn ich... mich auf ihn einlasse."

Jetzt erschrak Jeremy erst recht. Ja, das hatte er natürlich gesagt, denn der Vorschlag war völlig absurd gewesen. Zumindest dachte er das damals. Er konnte ja nicht ahnen, dass Oliver so völlig skrupellos war. Er schaute Rufus fest in die Augen. „Hör mal, das ist jetzt überhaupt nicht mehr wichtig. Ich habe nicht gewusst, wie irre der Typ ist und dass jemals passieren würde, was passiert ist. Aber es ist nicht deine Schuld und ganz bestimmt mache ich dir keinen Vorwurf, weil du versucht hast, mich zu retten. Und ich liebe dich, egal, was du tust und bestimmt nicht weniger, weil du das für mich getan hast." Jeremy hoffte, irgendeinen Anhaltspunkt in Rus Augen zu finden, der verriet, dass er ihm das glaubte. Tatsächlich wurde ihr Ausdruck sanfter, doch da war noch mehr. „Was ist noch?", fragte er leise und konnte sehen, wie Rufus nach Worten suchte. „Du kannst mir alles sagen", flüsterte er nun. Rufus wandte den Blick von Jeremy ab, als er sprach. „Was ist, wenn der mich mit irgendwas angesteckt hat?", kam es mit seltsam tonloser Stimme. Irgendwas. Jeremy verstand sofort, was Ru meinte und atmete schwer durch. Ja, daran hatte er auch schon gedacht. Aber das konnte einfach nicht so sein, dass die Zufälle des Universums ihn ein weiteres Mal heimsuchten und er wieder einen geliebten Menschen verlieren müsste. Diesmal nicht. Jeremy gab Rufus einen Kuss auf die Stirn.

„Dir passiert nichts. Du gehörst zu mir und ich passe auf dich auf", flüsterte er, „und das weißt du und das ändert sich nicht."

Rufus nickte endlich und schmiegte sich zaghaft an seinen Liebsten. „Tust du mir bitte einen Gefallen?", flüsterte er in sein Ohr. Jetzt nickte Jeremy.

„Mmm....hm, ja sicher. Was denn?" Er würde alles tun. Oliver die Kehle herausreißen oder ...

„Lass' uns nicht hierbleiben. Ich will nachhause."

Jeremy zögerte kurz. Seine Kopfverletzung war ihm dabei völlig egal, aber würde Rufus nicht vielleicht medizinische Aufsicht benötigen? „Bist du sicher?"

„Ja."

„Ist gut. Sobald Richard wiederkommt, gehen wir mit ihm. Okay?"

„Ja gut."

„Versuch', ein bisschen zu schlafen bis dahin."

Rufus nickte und legte den Kopf an Jeremys Brust. Vielleicht könnte er wirklich schlafen. Erschöpft genug müsste er sein, überlegte Jeremy, während er ihn hielt und auf seinen Atem horchte. Aber er kannte ihn zu gut und merkte, dass Rufus bestenfalls versuchte zu schlafen, doch auch ruhig liegen würde ihm guttun und wäre besser als nichts. Als einige Zeit später eine Schwester ins Zimmer kam und etwas zum Essen brachte, murmelte Rufus, er wolle nichts und rückte etwas ab, damit Jeremy sich aufrichten konnte.

„Bist du sicher? Vielleicht solltest du...?"

Aber Rufus schien nicht mal her zu hören und drehte sich weg, so als wäre schon der Anblick von etwas zu essen Übelkeit erregend. Jeremy beschloss, ihn nicht zu drängen und dachte auch, er wäre selbst nicht besonders hungrig, doch als er erstmal angefangen hatte, konnte er sich nicht bremsen. Das Essen war scheußlich, typisch für ein Krankenhaus, aber es war warm. Als Jeremy auch die Portion von Rufus verschlungen hatte, fühlte er sich endlich satt, aber auch mies. Rufus konnte theoretisch nicht weniger hungrig, also musste er um einiges elender sein. Ohne zu zögern griff Jeremy zum Telefon neben dem Bett. Sein eigenes und das von Rufus waren als Beweismittel bei der Polizei geblieben. Er ließ sich eine Verbindung zu Richard geben, erklärte ihm alles und der versprach, bei ihnen zu sein, sobald er aus dem Labor kam. Innerlich fluchte Jeremy über sich selbst, weil er nicht daran gedacht hatte, wo Richard hingegangen war, nachdem er sie verlassen hatte. Offenbar war er nicht weit und wartete im Labor auf die Untersuchungsergebnisse seines Bruders. „Er kommt gleich", flüsterte er Rufus zu und als der nicht mal mit einem Murmeln antwortete, stellte Jem erleichtert fest, dass er doch noch in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Er legte sich wieder zu ihm und versuchte, sich nicht vorzustellen, was er schon die ganze Zeit verdrängte. Oliver und Rufus, Oliver auf Rufus, was er getan hatte. Wie hatte Rufus das über sich ergehen lassen können? Er hatte keine Wahl gehabt. Und nach den Verletzungen zu urteilen, hatte er sich heftigst gewehrt. Jeremy konnte es nicht verhindern und stellte sich vor, wie viel Brutalität notwendig wäre, um Rufus zu vergewaltigen. Er war ein gesunder, kräftiger junger Mann, er konnte sich wehren, wenn er musste und trotzdem hatte Oliver ihn überwältigt. Jeremy stellte sich vor, wie es gewesen sein musste, ihm wurde weiß vor Augen, es drehte sich alles und er musste aufstehen, um sich im Bad zu übergeben. Dammit.  

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now