Teil46

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Rufus hatte noch Zeit, bevor er im Theater sein musste und es war auch nicht weit bis zum Donmar. Also entschied er, sich am Covent Garden Market eine heiße Schokolade zu holen und mit Richard zu telefonieren. Wenn er noch ein wenig Ruhe vor der Aufführung brauchte, dann ging er schon mal in den nahe gelegenen Garten der St. Paul's Church. Dort war es im Vergleich zum bunten Treiben bei den Markthallen erstaunlich ruhig und ihm gefiel der Gedanke, dass man diese Kirche die "Kirche der Schauspieler" nannte, auch wenn er überhaupt kein religiöser Mensch war. Er fand eine kleine Bank in Nähe der Bäume und wählte Richards Nummer. Kurz überlegte er noch, ob er seinem Bruder tatsächlich von dem Zwischenfall am Gala-Abend erzählen sollte, aber dann entschied er, dass es besser wäre, sich an ihre Abmachung zu halten. Wenn du in Schwierigkeiten bist, egal welche, will ich das rechtzeitig wissen. Rechtzeitig. Damit meinte Richard, dass er lieber zu früh, als zu spät erfahren wollte, wenn etwas nicht in Ordnung wäre, für den Fall, dass er als großer Bruder helfen konnte oder musste. Also traf das wohl zu.

„Hallo, hier Sommerford St. Aubyn, Richard am Apparat." Richard klang etwas gelangweilt wie immer und das tat irgendwie gut.

„Hi Rick, ich bin's, Rufus." Rufus grinste über Richards Wortwahl. Auf Sommerford St. Aubyn hatte es bis vor kurzem ausschließlich die zwei alten Telefone seiner Eltern gegeben und Richard meldete sich auch an seinem Handy wie bei den alten Anschlüssen.

„Kleiner Bruder, gut, dass du anrufst, ich habe mich schon gefragt, wie der Abend neulich gelaufen ist und dann bist du nicht gekommen." Richards Stimme verriet, dass er ehrlich verwundert war, jedoch kein bisschen vorwurfsvoll.

„Wie geht's euch, was machen die Mädchen?"

„Du kennst sie doch. Sie haben nur ihre Pferde im Kopf. An der Schule gibt es demnächst eine Theateraufführung und Rosamund hat wohl etwas von ihrem Onkel. Sie wird die Titania spielen. Rowena ist im Technik- Team und denkt sich Spezialeffekte aus."

„Donnerwetter. Lass mich rechtzeitig wissen, wann die Aufführung ist."

„Ja sicher doch. Und jetzt sag schon, was los ist."

Rufus überlegte kurz. „Der Abend neulich ist nicht ganz so gut gelaufen, wie wir dachten."

„Was heißt das?"

„Das heißt, er war ganz gut für Jem und ich habe gemacht, was du sonst getan hättest, aber ein Ex von mir ist aufgetaucht und der macht jetzt Stress." Rufus hielt den Atem an, um zu hören, wie Richard reagierte. Er hörte, wie der tief Luft holte, bevor er sprach.

„Was heißt Stress? Was hast du für Ex-Freunde, die dir Stress bereiten, den du mir mitteilst?" Jetzt klang Richard besorgt. Natürlich, er konnte sich denken, dass Rufus ihn nicht wegen irgendeiner Lappalie behelligen würde.

Rufus zögerte kurz und suchte nach Worten, um die Bombe vorsichtig platzen zu lassen. „Er war's, Oliver war da", sagte er dann schlicht, was aber völlig ausreichte.

„Zeus! Oh nein..." Es war ganz deutlich, dass Richard sich zusammenreißen musste. 

„Doch leider." Rufus horchte.

Am anderen Ende der Leitung atmete Richard schwer ein und aus. „Was will DER wieder von dir? Dem müsste klar sein, dass er riskiert, im Gefängnis zu landen, wenn du den Mund aufmachst."

„Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Ich bin längst volljährig, damit ist das verjährt."

„Zeus! Also was ist los, was will er? Geld? Davon haben wir genug."

„Keine Ahnung, aber er ist mir gefolgt und hat Fotos gemacht, von mir und Jem."

„Und du machst dir Sorgen wegen der Fotos?"

„Auch, aber mehr, weil der jetzt weiß, wo ich wohne und... ich..."

„Okay, ich verstehe schon. Wie wäre es, wenn du mit Jeremy nach Sommerford kommst?"

„Daran habe ich schon gedacht, aber wir haben unsere Auftritte hier in der Stadt."

„Was wäre, wenn du jemanden einstellst? Einen Sicherheitsmann?"

„Ist das nicht übertrieben? Ich bin nicht so hilflos wie vor Jahren und Jeremy ist da."

„Wenn du meinst..."

„Ich denke schon. Ich will mich nicht aufführen wie ein verängstigtes Opfer. Ich dachte nur, du solltest es wissen."

„Hast du es deinem Freund gesagt?"

„Ja."

„Das ist gut." Richard klang erleichtert.

„Findest du?"

„Ja, du vertraust ihm. Das ist doch was."

„Rick?"

„Ja?"

„Was ist, wenn ich das hier versaue?"

„Das wirst du nicht." Richard klang zuversichtlich.

„Glaubst du wirklich?"

„Ja, ganz sicher. Hast du gelogen?"

„Nein."

„Hast du irgendein Geheimnis?"

„Nein." Rufus wusste, was die nächsten Fragen wären. „Und ich bin absolut clean. Und wir passen auf."

„Das ist gut. Sehr gut."

„Rick?"

„Ja?"

„Danke, du bist ein richtig guter großer Bruder."

„Du bist der beste kleine Bruder und ich werde nie wieder einen Fehler machen, hörst du?"

„Ja, ich weiß. Es war nicht deine Schuld."

„Mag sein, aber deine auch nicht. Hörst du?"

„Ja."

„Gut."

„Komm bald mal wieder nachhause."

„Ja, ist gut. Grüß' Miranda und die Mädchen."

„Mach' ich gern. Bis dann und Kopf hoch."

„Ist immer oben. Bye."

Rufus drückte den roten Hörer. Es tat gut, mit Richard gesprochen zu haben. Vielleicht hatte er tatsächlich mit allem Recht und es würde alles gut werden. Rufus zweifelte nicht an sich oder Jeremy. Eher fürchtete er, dass Oliver tatsächlich irgendeinen perfiden Plan hätte. Aber was? Rufus schaute nach oben in die Blätter des Baumes und fragte sich, ob es etwas gäbe, das ihm Angst machen konnte. Nach allem, was er schon erlebt hatte, war da wohl nichts. Er trank den kalt gewordenen Rest der Schokolade und machte sich auf den Weg zum Theater.

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now