Teil85

596 75 8
                                    

Rufus blinzelte und hatte für einen Augenblick keine Orientierung, dann aber war klar, dass der Wagen die Einfahrt zum Dower House erreicht hatte. Den knirschenden Kies würde er jederzeit erkennen. Er blinzelte noch einmal und erblickte Jeremy, der aussah, als hätte er auch geschlafen und müde lächelte. „Da wären wir", hörte er dann die Stimme seines Bruders von vorn. Rufus richtete sich auf und in dem Moment durchfuhr ihn ein Schmerz, als würde ihm ein heißes Eisen in den Leib gestoßen. Zeus! Er konnte einen Stoßseufzer nicht unterdrücken. „Was ist?" Jeremy schaute ihn erschrocken an. „Nichts ist", log Rufus und hoffte, es würde die einzige Notlüge bleiben. Er würde Schmerzmittel brauchen, starke Schmerzmittel, aber das war nicht möglich. Er würde nicht auch noch einen Rückfall riskieren. Er holte tief Luft, versuchte gleichmäßig zu atmen und setzte ein Bein vor das andere, um aus dem Wagen zu steigen. Jeremy kam sofort hinterher und neben ihn. Inzwischen war auch Richard ausgestiegen. „Ihr findet alles, wie ihr es braucht. Hopkins hat etwas zum Dinner vorbereitet und er und Miss Perkins werden vorübergehend hierbleiben."

Rufus nickte. Er brauchte nicht zu fragen. Ganz sicher wäre Miss Perkins eine Krankenschwester oder sogar eine Ärztin. „Ich wäre lieber allein", sagte er und schaute Richard an. Der schüttelte den Kopf. „Auf gar keinen Fall. Das Haus ist groß genug und wenn etwas ist, dann ist jemand da." Rufus wollte erst widersprechen, doch dann sah er Jeremys Blick und seinen Verband an der Schläfe. Es wäre sicher besser, wenn jemand da wäre. Für Jeremy. Also schön. Er sagte nichts und ließ sich von Richard umarmen. „Ich bin da, wenn du mich brauchst", flüsterte sein Bruder, dann nickte er Jeremy zu und stieg wieder in den Wagen, der weiter zum Haupthaus fuhr. Was hatten die zwei geredet, während er schlief? „Komm, gehen wir hinein", schlug Jem vor und trat an ihn heran, so als habe er bemerkt, dass Rufus vielleicht Hilfe bräuchte. Hopkins war inzwischen an der Tür und erwartete sie, wie Richard gesagt hatte. Rufus biss die Zähne zusammen und ging neben Jem die paar Stufen zum Eingang hoch. Der Schmerz in seinem Unterleib blieb erträglich, auch weil er ihn diesmal nicht überraschte. Das war gut. Er hoffte inständig, dass er nicht doch noch irgendwelche unentdeckten inneren Verletzungen hätte. Das könnte doch nicht sein, oder? Rufus versuchte sich zu erinnern, ob er währenddessen bewusstlos geworden war und es möglich war, dass er nicht mitbekommen hatte, was Oliver noch getan hätte... Nein. Das war nicht möglich, oder? Was er spürte waren irgendwelche Abschürfungen und Prellungen, die sich jetzt bemerkbar machten, jetzt, wo er nicht mehr unter Schock stand. Was wenn sich irgendetwas entzündet? Nein, die hatten ihn mit Chemie und bestimmt auch Entzündungshemmern, Antibiotika jeder Art vollgepumpt. „Willkommen zuhause, Sir," nahm er Hopkins' Stimme wahr, wagte aber nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Er nickte nur. „Danke, Hopkins", murmelte er und ging weiter. Er versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Jeremy wich nicht von seiner Seite. „Wohin willst du?", fragte er. Rufus wusste es nicht so recht. „Vielleicht solltest du direkt schlafen gehen", schlug Jem vor. Das klang zu normal, um wahr zu sein. „Dinner steht für Sie im Wintergarten bereit", bemerkte Hopkins. Essen? Auf gar keinen Fall wollte Rufus etwas essen. „Vielleicht sollten wir als erstes nach Ihren Verbänden schauen, Sir?", mischte sich jetzt auch noch diese Miss Perkins ein. Aber vielleicht sollte sie das wirklich... „Okay, das reicht für's erste", ging Jeremy dazwischen, „ich denke, wir werden vielleicht später etwas essen und gehen jetzt hinauf und ziehen uns zurück. Wir werden nach Ihnen läuten, wenn wir Sie brauchen." Er warf der Frau und Hopkins einen Blick zu, der seine Worte unterstrich und Rufus war dankbar, dass sein Freund hier die Sache in die Hand nahm, auch wenn der Amerikaner völlig falsch lag, was das Läuten anging. Hopkins und Perkins hätten einen modernen Pager, Sommerford war nicht das 19. Jahrhundert. „Danke, Hopkins, Miss Perkins", sagte er nur, dann ließ er sich von Jeremy nach oben führen. Wieder Treppenstufen. Nach ein paar von ihnen drehte sich plötzlich alles und er hielt sich an Jeremy fest. „Was ist los?", fragte der erschrocken.

„Nichts, mir wird nur... schwindelig."

„Unsinn, du hast Schmerzen." Jeremys Augen weiteten sich vor Entsetzen. Oder war es Mitleid? Auf gar keinen Fall wollte Rufus Mitleid ertragen. „Lass mich einfach nach oben gehen!"

„Das könnte dir so passen", kam die Antwort und schon hatte Jeremy ihm einen Arm um die Schultern gelegt und nahm ihn mit dem anderen auf, um ihn vor der Brust zu tragen. „Zeus! Du solltest das nicht tun, du bist..."

„...nicht so schwer verletzt wie du." Und damit war Jeremy auch schon mit Ru die Treppe herauf und durch die Schlafzimmertür. Dort setzte er ihn vorsichtig ab. „Geht's wieder?", fragte er sanft. Rufus war etwas überrascht von Jeremys Stärke einerseits, weil er ihn so mühelos getragen hatte und seiner samtweichen Stimme andererseits.

„Ja."

„Du brauchst mir nichts vorzumachen."

„Das mache ich nicht. Es geht, wenn ich keine Treppen steige."

„Das nehme ich für ein Nein." Damit half Jeremy Ru bis zum Bett, indem er ihn unterhakte. „Warte hier und wenn's geht, zieh dich aus. Wir sehen erstmal nach dir und dann gibt's ein Bad."

Rufus nickte und ließ ihn ins Bad gehen, wo Jem begann, Wasser einzulassen. Was jetzt? Was, wenn Jeremy ihn jetzt ansehen würde? Rufus wusste nicht, ob er sich jemals in seinem Leben so geschämt hatte, wie in diesem Augenblick bei der Vorstellung, dass Jeremy nun das ganze Ausmaß von Sex und Gewalt würde ermessen können. Das mit der Ärztin war etwas Anderes. Sie war eine Fremde und sie war professionell. Jeremy war Jeremy und sein Liebster und Rufus wusste nicht, wie viel er ertragen könnte. Er war sich nicht mal sicher, ob er sich selbst so sehen und ertragen könnte. Er begann zögerlich damit, sein Hemd auszuziehen. Seine Hände zitterten leicht und Rufus fiel auf, dass seine Fingernägel abgebrochen und eingerissen waren. Da waren Schürfwunden an seinen Armen und blaue Flecken. An einem Arm sah man blau-rötlich die Abdrücke von Olivers Hand. Rufus schaute weiter nach Spuren. Da waren noch mehr Flecken am Brustkorb, da wo Oliver ihn getreten hatte, als er am Boden lag. Und der furchtbare Biss im Nacken. Der Bluterguss breitete sich dunkel über die Schulter aus. Im Bad rauschte das Wasser in die Wanne. Was würde Jeremy denken? Rufus machte weiter. Er wollte vorbereitet sein und wissen, wie schlimm es war. Er hatte keine Vorstellung, wie schlimm er aussähe, denn im Krankenhaus waren keine Spiegel gewesen, wahrscheinlich mit Absicht. Er hob sich vom Bett und ging behutsam vor den Ankleidespiegel. Dort schloss er erst seine Augen, bevor er seine Hosen herunterließ. Dann bekam er bei seinem eigenen Anblick einen Schreck. Was in der letzten Nacht nur geschwollen oder gerötet war, war teilweise noch geschwollener und Prellungen und Quetschungen waren dunkelblau-violett klar zu sehen. Olivers Hände hatten ihn an der Hüfte gegriffen und gehalten. Seine Knie waren rot und wund. Ihn schauderte, als er es endlich wagte, seine Rückseite im Spiegel zu betrachten. Er musste sich zusammenreißen, um keine Panikattacke zu bekommen. Für einen Augenblick dachte er, er könnte Olivers Atem an seinem Ohr hören, doch das war er selbst, der schnell nach Luft rang. Die Innenseite seiner Schenkel war dunkel verfärbt, nahezu überall und da, wo Oliver in ihn eingedrungen war, war er wund und rot. Die Knie versagten ihm und er ging zu Boden. Als er am Boden aufkam, durchfuhr ihn wieder dieser bohrende Schmerz und er keuchte stoßartig auf. „Ru? Alles in Ordnung?", kam Jems Stimme aus dem Bad. Das Wasser lief nicht mehr. Was halfen alle Notlügen bei Jeremy? Nichts.

„Nichts ist in Ordnung", rief er trotzig zurück und versuchte, zumindest nicht bemitleidenswert zu klingen, „Bleib weg. Ich sehe furchtbar aus." In dem Moment spürte er auch schon, dass Jem bei ihm war. Er zog ihn behutsam in seine Arme. „Du redest Unsinn", begann er, „das ist, was Oliver mit dir gemacht hat, das bist nicht du. Hörst du mich?"

Rufus hörte ihn, wusste aber nicht, was er antworten sollte. Wie konnte Jeremy so gefasst, wie konnte er so zärtlich sein? „Ich höre dich", brachte er dann heraus, weil er Jeremys sorgenvollen Blick nicht ertrug.

„Gut. Ich trage dich jetzt ins Bad und das heiße Wasser wird dich entspannen. Und ich werde dir helfen. Okay?"

„Ich will nicht, dass du mich so siehst." Rufus erschrak, weil seine eigene Stimme so schwach klang.

„Das ist okay. Ich sehe dich nicht so, ich sehe dich, wie ich dich immer sehe." Jeremy schien es wirklich so zu meinen. Seine Stimme klang warm und zugleich sicher. Und gleich darauf hatte er Rufus vom Boden gehoben und trug ihn ins Bad. Dort ließ er ihn vorsichtig in die Wanne gleiten. Dann stieg er selbst hinter Rufus mit hinein. „Lehn dich an, ich kümmere mich um dich", flüsterte er. Rufus schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass alles gut wäre. Er hätte keine Schmerzen, keine Flecken, keine Bisse oder wunde Stellen. Es gab nur ihn und Jeremy. Jeremy begann leise zu summen und seine Stimme wirkte wie ein kleines Wunder. Rufus atmete ruhig...

No lies, keine LügenKde žijí příběhy. Začni objevovat