Teil56

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Jeremy hatte keine Ahnung, warum es ihm so schwer fiel, zu ihr zu gehen, denn June war jahrelang eine gute Freundin gewesen, doch jetzt, wo er wusste, dass sie sich völlig falsche Hoffnungen gemacht hatte, war er sich kaum einer Sache mehr sicher. Hatte sie wirklich geglaubt, er würde sich ändern und früher oder später entdecken, dass er mit ihr zusammen sein möchte oder sogar, dass er verliebt in sie wäre? Jeremy kam das alles sehr naiv vor. Aber vielleicht war sie auch auf eine Art verliebt in ihn, die sie blind gemacht hatte für das, was er wirklich war. Vielleicht war aber auch er es, der durch die Leere nach Davids Tod zu unaufmerksam ihr gegenüber war. Wieso hätte er das sonst alles nicht mitbekommen? Er nahm sich vor, jetzt nicht nachtragend zu sein und sich mit ihr zu versöhnen, wenn sie denn auch bereit wäre, zu akzeptieren, dass er mit Rufus gefunden hatte, was ihm fehlte. Es war niemandes Schuld, dass der junge Mann im Sturm erobern konnte, was Jeremy jahrelang unbeabsichtigt vor der Welt verborgen gehalten hatte und was für June als Frau nun einmal unerreichbar blieb: Jeremys innerstes Sehnen nach einem anderen Menschen, mit dem er wirklich alles teilen konnte, seine Interessen, seine Gedanken, seine Gefühle und nicht zuletzt seine Lust. Vielleicht wäre das nicht so schwer zu erklären, jedenfalls hoffte er das. Als er ihr Hotelzimmer erreicht hatte, zögerte er an Junes Tür. Normalerweise war sie vor einem Auftritt immer Stunden vorher da und machte ihren, wie sie es nannte, Schönheitsschlaf. So war es auch heute. An der Tür hing ein Schild vom Hotel mit dem Schriftzug „Bitte nicht stören". Jeremy holte sein Handy heraus und schaute nach der Uhrzeit. Doch. Sie müsste schon auf sein, also schrieb er eine kurze Nachricht. Stehe vor deiner Tür und möchte mit dir reden. J. Wenn sie noch immer richtig sauer war, würde sie nicht öffnen. Aber gerade, als Jeremy sich vor die Tür setzten wollte, ging die tatsächlich auf. „Du hast echt Nerven hier aufzukreuzen, nachdem du mich mit diesem Aushilfstenor hast sitzen lassen", begrüßte sie ihn.

Jeremy kannte sie zu gut, um sich davon einschüchtern zu lassen. „Peter sagt, der sei gut gewesen, also reg dich nicht auf. Kann ich reinkommen oder streiten wir auf dem Gang weiter?"

Sie schnitt eine Grimasse, ging zurück in ihr Zimmer, ließ aber die Tür offen. „Dann komm halt", rief sie zurück über die Schulter. Jeremy wusste, dass sie solch eine Diva sein konnte und beschloss, einfach mitzuspielen. „Ich komme, um mich mit dir auszusprechen", begann er, „dir ist doch auch klar, dass wir uns wieder vertragen sollten." Sie gab keine Antwort und setzte sich erstmal. Immerhin bot sie ihm auch einen Platz an. Jeremy setzte sich also in einen Sessel, ihr gegenüber.

„Wie siehst du eigentlich aus? Ist die Nase gebrochen, kannst du singen?", fragte sie dann und schien echt besorgt und überrascht zugleich.

„Ach das. So gut wie beides. Sie ist angebrochen, aber ich kann so singen." Jeremy war ein wenig verwundert, dass Peter ihr nichts gesagt hatte. Vielleicht hatte er es für Jeremys Aufgabe gehalten.

„Verdankst du das deinem...Freund?"

„Wie kommst du darauf?"

„Sonst hattest du sowas nie. Da muss es ja was mit ihm zu tun haben."

Jeremy seufzte halb genervt, halb enttäuscht. „June, krieg dich doch bitte wieder ein. Das ist ungefähr das Letzte, was ich brauche, dass eine Freundin wie du, gegen ihn ist."

„Dann erklär doch mal, wie das passiert ist." Sie schaute ihn herausfordernd an, sodass er einige Mühe hatte, ruhig zu bleiben.

„June, du weißt doch, dass wir erpresst worden sind. Und zwar von einem echt miesen Typen. Gestern Abend habe ich an Rufus' Theater auf diesen Oliver gewartet, weil ich so eine Vorahnung hatte und als er kam, ist die Sache eskaliert."

„Du hast dich mit diesem Erpresser geschlagen?"

„Ja."

„Ich weiß nicht, Jeremy, ich kenne dich gar nicht wieder. Wieso machst du sowas?" Sie schien entsetzt oder zumindest irritiert.

„Ist das denn nicht offensichtlich? Weil ich nicht zulasse, dass ihm was passiert. Ich bin verliebt in den Jungen. Ich will nie wieder zulassen, dass meinem Liebsten was passiert." Einmal reicht.

„Und da ist Gewalt eine Lösung?"

„Nein, ja, vielleicht manchmal. Ich weiß auch, dass das nicht gerade vorbildlich ist, aber ich habe es getan, weil der Typ es nicht anders kapiert, ich echt rot gesehen habe und weil ich es gelernt habe. Und du würdest doch auch versuchen, denjenigen zu beschützen, den du liebst." Er schaute sie eindringlich an, damit sie verstehen würde.

Sie nickte jetzt langsam. „Vielleicht."

„Aber eigentlich wollte ich dich bitten, mir nicht länger nachzutragen, dass das mit dir und mir nichts werden kann. Du solltest mit jemandem zusammen sein, der dich auch wirklich lieben kann, nicht mit jemandem, der nur dein Freund ist." Er schaute sie weiter an, auch um zu sehen, ob er die Worte gut wählte.

„Ist dir das denn nie in den Sinn gekommen, dass ich mich in dich verliebt haben könnte?", gab sie jetzt zurück und der Ausdruck in ihren Augen verriet, dass sie noch immer nicht alle Hoffnung aufgegeben hatte. Jeremy würde sie wiederum enttäuschen müssen, aber er könnte gar nicht anders, als absolut ehrlich zu sein. Er begann, langsam den Kopf zu schütteln, ohne von ihr wegzusehen. „Nein, June, das ist es nicht. Dann wäre ich nicht so gedankenlos gewesen und hätte dich nicht mit in die Suche nach dem Unbekannten aus dem Pub hineingezogen. Es tut mir leid, aber das ist die Wahrheit. Ich bin nicht bi."

„Es hätte so schön mit uns werden können. Wir hätten eine kleine Familie haben können", flüsterte sie beinahe und war jetzt offensichtlich bemüht, keine Tränen zu zeigen. Was sollte er nur sagen? Das hätte es nicht werden und geben können. Das war... so war er nicht. Dann entschied er, ihr eine andere Antwort zu geben. „Das kannst du alles haben, nur eben nicht mit mir. Ich gehöre zu Rufus und er zu mir. Auch wenn du das nicht so leicht akzeptieren willst."

„Das muss ich wohl." Sie klang enttäuscht, beinahe traurig.

„Ja, das musst du."

„Dann werde ich es versuchen. Aber versprich mir, dass wir Freunde bleiben."

„Das verspreche ich gern."

Sie versuchte ein Lächeln und er gab ihr eins zurück. Dann fand er, dass er sie lieber noch etwas allein lassen sollte, damit sie sich vor der Vorstellung wieder in den Griff bekäme. Natürlich war sie jetzt aufgewühlt, das war nur allzu deutlich.

„Ich lasse dich besser jetzt allein", flüsterte er.

Sie nickte. „Bis nachher."

„Ja, bis dann."

Kaum war er aus der Tür, da musste er auch erst einmal kurz stehen bleiben und an die Wand lehnen, um sich zu sammeln. Leicht war ihm das alles bestimmt nicht gefallen, aber jetzt war es gesagt und wie es schien, war June stark genug, um sich mit der Situation anzufreunden. Dann würden sie alles andere schon hinbekommen, da war sich Jeremy jetzt sicher. Er holte einmal tief Luft, dann machte er sich auf und ging in sein Zimmer. Er packte ein paar Sachen zusammen, dann war es Zeit, zur Vorbereitung auf die Abendvorstellung. Das wäre der vorletzte Grimes vor der Preisverleihung...

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now