Teil91

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Wie von Richard angekündigt, kam Miss Perkins, um vor allem Rufus, aber auch Jeremy zu untersuchen und zu versorgen. Hopkins führte sie direkt die Treppe hinauf in das Schlafzimmer im ersten Stock, wo der junge Master unter Aufsicht des Amerikaners ein wenig geruht hatte. Rufus lag noch auf dem Bett, nur Jeremy kam ihnen an der Tür entgegen. Die Begrüßung verlief etwas unterkühlt, denn Rufus wusste nur zu gut, was ihm nun gleich bevorstand und Jeremy konnte dies nur zu gut nachempfinden und war deswegen nicht weniger angespannt. Die junge Ärztin ließ sich von all dem scheinbar nicht beeindrucken und kaum war Hopkins wieder gegangen, begann sie damit, ein paar Verbandmittel und andere Dinge aus ihrer Tasche zu holen und zurecht zu legen.

„Wie war die Nacht?" Ihre Frage galt ganz sicher vor allem Rufus, doch der zögerte mit der Antwort. Ohne weiter darauf zu warten, fuhr sie fort. „Sagen Sie mir, wo sie Schmerzen haben?"

Rufus verdrehte genervt die Augen. Er war sich nicht mal sicher, was ihn mehr nervte. Eine weitere Untersuchung, sein Gefühl der Hilflosigkeit oder tatsächlich die Schmerzen, die er am ganzen Leib, vor allem am Unterleib nur zu deutlich spürte. Er wollte einfach nur weg, aber das ging nicht.

„Mein Bruder hat Ihnen doch sicher erzählt, was genau passiert ist", brachte er heraus. „Ich habe keine Lust, das zu wiederholen."

Sie nickte etwas verlegen und Jeremy beschloss, seinem Freund und ihr zu Hilfe zu kommen. So war es in jedem Fall unerträglich. „Wie wäre es", schlug er vor, „wenn Sie sich erst meinen Kopf vornehmen und Rufus, du ziehst dich im Bad aus und nimmst dir einen Bademantel?"

Sie schaute den Amerikaner jetzt wirklich dankbar an und Rufus, dem die Absicht hinter Jems Eingreifen natürlich bewusst war, murmelte ein „Okay" und verschwand im Bad.

„Nehmen Sie es ihm nicht übel", begann Jeremy, während sie sich nun seiner Kopfwunde widmete.

„Das tu ich nicht. Sein Bruder hat mich gewarnt und -naja- wer bleibt schon ruhig, in so einer Situation."

Jeremy nickte und verzog das Gesicht ein wenig vor Schmerz, als sie den Verband abzog, um die Wunde zu versorgen. „Sie bekommen natürlich neue Schmerzmittel", versicherte sie sogleich, „ansonsten sieht es aus, wie es aussehen sollte." Sie legte einen neuen Verband an und überprüfte mit einer Pupillenleuchte seine Reflexe. Damit schien sie zufrieden. Als nächstes ließ sie sich Jeremys Handgelenke zeigen, also hatte sie natürlich genaue Informationen von Richard oder auch aus dem Krankenhaus erhalten. Sie riet ihm, sich zu schonen und gab ihm eine Salbe. „Hier, die wirkt sehr gut."

Jeremy wünschte sich, sie könnte seinem Freund ebenfalls Linderung durch Schmerzmittel oder Salben bringen, aber das war wohl kaum möglich. Im besten Fall nur körperlich.

„Ihr Freund hat etwas gegessen?", fragte sie jetzt.

„Ja, und auch drin behalten."

„Das ist gut. Ich werde sehen, was ich tun kann. Das Wichtigste ist, zu klären, ob er Fieber hat."

„Ich glaube nicht. Das hätte ich bemerkt."

„Gut."

„Achten Sie darauf, dass er viel trinkt."

„Mach' ich. Stellen Sie ihm nicht zu viele Fragen."

„Gut, das werde ich versuchen."

Kaum waren sich die beiden so weit einig, da kam Rufus im Bademantel aus dem Bad. „Ich bin dann so weit", sagte er kurz und knapp und wartete auf irgendeinen Hinweis. Miss Perkins deutete ihm an, zu dem Tisch zu kommen, wo sie ihre Vorbereitungen liegen hatte. Sie rückte ihm dort einen Stuhl zurecht.

„Möchtest du, dass ich gehe?", fragte Jeremy.

„Nein, bitte bleib." Rufus schien sich sicher.

Miss Perkins schien von der Idee weniger begeistert, denn sie warf Jeremy einen Blick zu, der wohl fragte, ob zu bleiben wirklich sein Ernst sei, aber das war es. Allerdings ging Jeremy ein paar Schritte zum Fenster. Er würde bleiben, aber er würde lieber aus dem Fenster schauen. Er wusste nur zu gut, wie furchtbar Oliver seinen Liebsten zugerichtet hatte.

„So ist gut", hörte er die Ärztin sagen, „fangen wir am Kopf an."

Die folgende Untersuchung verlief nun beinahe ruhig. Nur gelegentlich hörte Jeremy wie Rufus ein Zischen durch die Zähne oder ein gequältes Brummen von sich gab, wenn sie etwas schmerzhaft berührte. „Tut mir leid", sagte sie dann oder „ist gleich vorbei." Zuerst bekam Jeremy alles mit, doch dann schaute er umso intensiver hinaus auf den See und den Hof. Da waren Schwäne und Seerosen. Ihm fiel wieder ein, wie er dort mit Rufus gebadet hatte und zählte die Schwäne. Das würden sie wieder tun und es wäre wieder schön. Dann sah er Hopkins auf den Hof kommen. Den hatte er bei seinem ersten Besuch für ein skurriles Überbleibsel aus alten Filmen gehalten. Same procedure as every year, Miss Sophie? Aber er war wohl mehr als das. Ein Butler, ja, aber auch jemand, der bedingungslos zu Rufus oder Richard oder auch ihm halten würde. Offenbar suchte er irgendeine Beschäftigung, um sich abzulenken. Er begann, den Kies auf dem Hof zu harken. Wen interessierte das jetzt? Irgendwo müssten die Sicherheitsleute zu sehen sein, oder nicht? Vielleicht waren die weiter weg, am Tor...

„So, das wäre geschafft", hörte er dann die Ärztin deutlich erleichtert sagen.

Er drehte sich zu ihr und Rufus um. Rufus sah mitgenommen, erschöpft aus. Kein Wunder. „Danke", brachte er mühsam hervor und „gehen Sie bitte." Dann schaute er zu Jeremy, der jetzt sofort zu ihm kam und ihn vorsichtig in den Arm nahm. „Ist gut, du hast es geschafft", flüsterte er ihm ins Ohr, während Miss Perkins ihre Sachen einpackte. „Ich denke, es wird keine Komplikationen geben", sagte sie dann noch zu beiden, „Falls Sie mich brauchen, Ihr Bruder besteht darauf, dass ich mindestens eine weitere Nacht drüben im Herrenhaus verbringe. Morgen sehen wir dann nur nach den Verbänden."

Rufus nickte nur.

„Ja, danke. Ist gut. Bis morgen", half Jeremy mit Worten aus, während Rufus auf den Teppich starrte.

„Bleib du wo du bist, ich hole deine Sachen und helfe dir 'rein." Jeremy war schon so gut wie auf dem Weg zum Bad, da hielt ihn Rufus an der Hand zurück.

„Ich bin kein verfluchter Greis, ich krieg' das hin."

Jem bekam fast einen Schreck, so bitter klang das und der Blick in Rufus' Augen, eine Mischung aus Zorn, Trotz und wilder Entschlossenheit, ließ ihn sofort stehen bleiben.

„Natürlich kriegst du das hin", sagte er dann leise. Rufus stand auf, und ging an Jem vorbei ins Bad. Jeremys Lippen formten ein lautloses „Ich liebe dich", dann fiel die Tür zu. Hinter der Tür, da war Jeremy sich ganz sicher, hörte er Rufus leise schluchzen. 

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now