Teil47

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Jeremy bemerkte seine ungeheure Anspannung erst, als er begann, sich für die Vorstellung einzusingen. Der Chorraum des Royal Opera House hatte zwar eine hervorragende Akustik, aber für ihn selbst war nicht zu überhören, dass seine Stimme angestrengt und forciert klang. Er probierte ein paar lockernde, entspannende Vokalisen und versuchte, sich auch mental zu entkrampfen. Das war allerdings leichter gesagt als getan. Wenn er formulieren müsste, was ihm konkret Schwierigkeiten bereitete, dann war es die Vorstellung von Rufus, wie er völlig neben sich in der kalten Dusche saß einerseits und dem gefassten Rufus, der sich auf's Neue mit dem Versteckspiel um ihre Liebe einließ andererseits. Das wollte nicht zusammenpassen. Die einzig mögliche Erklärung war, dass Ru einen traumatischen Rückschlag erlitten hatte und dies jetzt mit eiserner Willenskraft und Vernunft kontrollierte. Das war zu viel, um es von ihm, von irgendwem, zu verlangen. Jeremy machte ein paar Dehnübungen und nahm sich vor, die ganze Sache abzublasen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, wie June und die anderen einen Preis bekämen, er aber einfach nur von der Liste der Nominierten verschwinden könnte. Er würde zurücktreten oder sowas in der Art. Kaum war der Entschluss gefasst, fühlte er sich deutlich besser und die Stimme begann, besser zu gehen.

Nach dem Einsingen nahm er sich vor, als erstes June in Kenntnis zu setzen. Er ging zu ihrer Garderobe, in der Hoffnung, dass sie noch dort und nicht bereits in der Maske war. An der Tür hörte er, dass sie drinnen ein paar Gesangsübungen machte. Also klopfte er. „June, ich bin's, Jeremy, kann ich hereinkommen?"

„Komm einfach. Alles okay", kam es zurück. Also trat er ein. 

Sie war bereits im Kostüm und schnürte sich gerade die Stiefeletten, die dazu gehörten. „Was ist denn so wichtig, dass du nicht warten kannst?", fragte sie neugierig.

„Die ganze Sache von vorhin. Ich kann das nicht durchziehen. Das ist zu viel verlangt", brachte er hervor. 

Sie schaute halb überrascht, halb ungläubig. „Was soll das heißen? Wir haben es fast geschafft. Jeder will diesen Preis und wir können ihn kriegen, wenn alles klappt." Jeremy kam es vor, als wüsste sie gar nicht, wovon er gesprochen hatte. „June, versteh das bitte. Ich will bei dieser Farce nicht länger mitmachen. Ich will und kann nicht. Es macht mich fertig und viel wichtiger noch, es macht Rufus fertig."

„Rufus?!", schnappte sie beinahe verächtlich. Warum nur, was hatte er ihr denn schon getan? Nichts.

„Ja genau, Rufus. Und wenn du etwas gegen ihn hast, dann hast du etwas gegen mich. Nur damit das klar ist. Ich erkenne dich überhaupt nicht wieder. Was ist los mit dir?" Jeremy hatte schon zuvor bemerkt, dass sie sich Ru gegenüber aggressiv verhielt und er hatte wirklich keinen blassen Schimmer, was sie gegen seinen Liebsten haben konnte, es sei denn, es passte ihr nicht, dass ...

„Was mit mir los ist?", unterbrach sie seine Gedanken, „was soll schon los sein mit mir? Es ist ja nicht so, als wäre ich in den letzten Tagen völlig abgeschrieben, und das, obwohl ich deine älteste Freundin bin und immer zu dir gehalten habe!" Der Sarkasmus, mit dem sie sprach, traf Jeremy völlig unvorbereitet. Hatte er sie so sehr gekränkt? Aber wie denn nur? 

„June, das tut mir leid, wenn ich dich irgendwie gekränkt habe, aber du hast doch mitgekriegt, dass ich mich verliebt habe. Natürlich will ich dann bei ihm sein."

„Bei ihm, ihm, er, Rufus, das ist alles, was du noch zu sagen hast und ich finde es geradezu erbärmlich!", sagte sie spöttisch.

„Was ist erbärmlich daran, verliebt zu sein, erklär mir das!", fuhr er sie jetzt an.

„Was? Das fragst du noch? Es ruiniert deine Karriere!", spie sie aus. „Jahrelang bist du hervorragend allein klar gekommen und mit mir klar gekommen und jetzt setzt du alles auf's Spiel, wegen so einem dahergelaufenen, englischen Homo- Bastard." 

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now