Teil69

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Am nächsten Morgen stellten beide Männer fest, dass die Nacht ohne Zwischenfälle, erholsam, aber dennoch zu kurz gewesen war und es erforderte einige Disziplin, aufzustehen, zu duschen und zu frühstücken. Keiner von beiden hatte Hopkins kommen, decken oder wieder gehen gehört. Nach dem Frühstück bleib nicht mehr viel Zeit, wenn sie nicht auf den letzten Drücker am Covent Garden sein wollten. Rufus machte es nichts aus, wenn er nur knapp vor der Vorstellung ankam und das kam bei ihm nicht gerade selten vor, vor allem, wenn er nicht solo war, was jetzt definitiv zutraf. Jeremy als Sänger brauchte da etwas mehr Vorbereitung. Die Maske war nicht so wichtig, aber das Einsingen und Einstimmen schon. Also fuhren sie noch am späten Vormittag los und erreichten Jeremys Hotel in extrem kurzer Zeit, weil ein halbwegs ausgeschlafener Rufus auf einen neuen Streckenrekord aus zu sein schien. Jeremy hielt sich extra fest und genoss das Tempo. Im Hotel angekommen, beschloss Jeremy Peter anzurufen, um die Abläufe bei der morgigen Preisverleihung zu erfahren. Rufus telefonierte am Fenster der Suite mit der Polizei. Er wurde etwas nervös, denn sie sagten, sie hätten noch immer keine konkrete Spur, die zu Oliver führte, sie seien aber sicher, dass er noch in der Stadt sei, denn sein Wagen sei auf verschiedenen Überwachungskameras zu sehen gewesen. Zwar war das nicht in der Nähe vom Covent Garden oder Hampstead, aber es bedeutete wohl, dass er noch immer nicht lockerlassen würde. Und dass man ihn noch nicht fassen konnte, hieß auch, dass er nicht dumm war. Sobald er merkte, dass das Haus in Hampstead bewacht wurde, würde er sich etwas Neues ausdenken. Rufus schauderte bei dem Gedanken Oliver wiederzusehen. Egal wie viel Zeit vergangen und wie viele Liebhaber er danach gehabt hatte, Oliver hatte einen bitteren Nachgeschmack in seinem Leben hinterlassen. Was könnte er tun, wenn es je dazu käme? Er war ganz gedankenverloren, als Jeremy ihn plötzlich ansprach. 

„Keine guten Neuigkeiten?", fragte er.

„Nein, keine."

Jeremy war enttäuscht und auch wütend auf das Versagen der Polizei. Wie konnte es sein, dass man diesen Stalker nicht aufspürte? Dann merkte er, dass Rufus weniger wütend als wirklich beunruhigt war. Oh bitte, nein. Er musste nicht lange überlegen, was zu tun sei, denn der Gedanke war ihm schon längst gekommen. „Rufus, sag mal, was hältst du davon, wenn wir einfach für eine Weile fortgehen?" Er hoffte, dass es mehr wie eine gute Idee als wie ein Plan aus Besorgnis klang.

„Fortgehen, wohin? Nach New York?" Der Jüngere war überrascht, aber das musste nichts bedeuten.

„Ja, gleich morgen, spätestens übermorgen, wieso nicht?" Jeremy wirkte entschlossen. „Du kommst mit mir. Und wir kommen erst zurück, wenn dieser Oliver gefasst ist."

„Aber was wird aus meinem Orlando?"

„Ist es nicht besser, wenn du erstmal in Sicherheit bist? Den größten Teil des Engagements hast du hinter dir. Und es kann keiner von dir verlangen, dass du ein solches Risiko eingehst. Jeden Abend auf der Bühne stehen und diesem Typen ein Ziel bieten."

Rufus nickte etwas zögerlich, aber einsichtig. „Ich weiß, was du meinst", sagte er, „und wir zwei schon bald in New York: Das wäre großartig!"

„Aber du willst deine Leute am Theater nicht enttäuschen?"

„Ja, nein, ich weiß nicht." Rufus war nicht sicher, wie er es Jeremy erklären sollte, aber da war mehr als nur das. „Jem, ich glaube nicht, dass er mir etwas antun würde."

Jeremy war nicht wenig entsetzt. „Wie kannst du das sagen? Er hat dir bereits etwas angetan. Also würde er es natürlich wieder tun!"

„Das meine ich nicht. Ich meine, er will mich bestimmt nicht umbringen oder so. Ich glaube eher, dass er dir gefährlich werden könnte."

„Umso besser, wenn wir einfach hier verschwinden. Irgendwann muss die Polizei ihn finden und dann kommen wir zurück und ich suche mir hier einen Job und du machst dieses Kind und alles wird gut."

Rufus schaute ungläubig. „Du glaubst, es sei so ...einfach?"

„Ja sicher, wieso denn nicht. Wir sind beide richtig gut in dem, was wir tun. Wir können überall arbeiten. Wenn wir morgen hinschmeißen, haben wir übermorgen ein anderes Engagement. Und wenn du wiederkommst, kannst du immer noch für deinen Bruder tun, worum er dich gebeten hat." Jeremy meinte es wirklich ernst und der Plan schien in der Tat sehr verlockend. New York. Nicht wochenlang ohne Jeremy in London. Dann zurück. Neuer Job. Neues Leben. Zu zweit.

„Also was sagst du?", drängelte Jeremy ungeduldig.

Rufus fand jetzt langsam aber sicher Gefallen an der Idee. Er lächelte und nickte zustimmend. „Ja, okay, bin dabei. Machen wir es so."

Jeremy war sofort begeistert. „Du sagst also ja?!"

„Ja!"

„Wow!" Jeremy war nicht nur begeistert, sondern auch echt erleichtert. Bestimmt würde es ihnen gut tun, etwas Abstand zu gewinnen und die Vorstellung, mit Ru in New York zu sein und ihn nicht hier zurückzulassen, war das Beste überhaupt. Er musste ihn einfach sofort küssen, was Rufus nur zu gern erwiderte und mit Sicherheit wären sie an Ort und Stelle noch weitergegangen, wenn nicht plötzlich jemand an der Tür geklopft hätte, um die Garderobe für den nächsten Abend zu liefern. Jeremy musste seine Hände von Rufus nehmen und ging zur Tür. Rufus rollte leicht genervt mit den Augen und hoffte, dass sie dort weitermachen würden, wo sie gerade aufgehört hatten, aber Jeremy hatte beschlossen, vernünftig zu sein. „Wenn wir jetzt artig sind, dann wird es nachher umso schöner", flüsterte er Rufus ins Ohr. Der wusste genau, was gemeint war und lächelte eindeutig zweideutig. „Dann lass uns hoffen, dass die Typen vom Sicherheitsdienst nicht in der Wohnung warten."

„Wenn ja, schicken wir sie weg."

„Klar, weil das der Sinn und Zweck vom Sicherheitsservice ist", bemerkte Rufus ironisch.

Jeremy grinste. Punkt für Rufus.

„Vielleicht möchten die stattdessen mitmachen?", schlug Jeremy jetzt scherzhaft vor.

Rufus lachte. „Bilde dir das bloß nicht ein. Wir schicken sie in den Garten oder ins Auto."

„Schade."

„Nimmersatt." Rufus schüttelte gespielt entrüstet den Kopf. Dann wurde er plötzlich ernst. „Egal, was passiert, ich lasse dich nicht mehr gehen", sagte er und sah Jeremy an, „Versprich mir, dass du mich auch nicht gehen lässt."

Jeremy war verwundert über die seltsame Wortwahl. Warum sollte er das tun oder auch nur auf die Idee kommen? „Ich verspreche es. Beides verspreche ich", wiederholte er mit Nachdruck und hatte erst dann das Gefühl, dass Rufus zufrieden war. Natürlich lag das an der angespannten Situation in London. Rufus fühlte sich hier vorerst nicht mehr sicher. Es war unerträglich und es wäre bald vorbei. Je eher desto besser. „Kommst du nachher gleich hierher?", wollte Jeremy dann wissen und verfluchte sich gleichzeitig, weil er seinen eigenen besorgten Ton bemerkte. Der Weg vom Donmar bis zum Royal Opera House war eine Sache von gerade mal fünf Minuten auf belebten Straßen...Rufus ignorierte den Ton gekonnt. „Ja sicher, ich steh auf deinen Wahnsinn im dritten Akt. Und auch sonst. Ich hab' jetzt auch noch Zeit und kann mit 'rüberkommen," schlug er dann vor. Das war eigentlich eine ganz gute Idee. In jedem Fall besser, als wenn er vor seiner Vorstellung irgendwo in der Stadt herumschlenderte und ein viel zu gutes Ziel abgab. Wenn Rufus etwas von Jeremys Erleichterung merkte, dann überspielte er auch das gekonnt. „Ich könnte einfach in deiner Garderobe ein bisschen Text lernen."

„Gute Idee. Und ich erzähle dir noch, wie das morgen alles laufen soll."

„Okay. Dann los."

No lies, keine LügenWhere stories live. Discover now