Danke

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Es klopft an meiner Tür und ich drehe mich im Halbschlaf um. „Maria, du musst aufstehen. Es ist schon spät..." ruft meine Tante.

Ich habe das ganze Wochenende im Café ausgeholfen und bin todmüde. Der Laden war brechend voll. Menschen aus jeder Altersklasse kommen vorbei, um einen günstigen Kaffee abzugreifen. Wenn sie mal kein Geld dabei haben, drückt Melinda ein Auge zu und Menschen, denen es nicht gut geht, bietet sie sogar eine Dusche oder anderweitige Verpflegung an. Sie ist sowas wie die gute Seele hier im Viertel und ich fange an, sie zu mögen, auch wenn wir nicht viel miteinander sprechen. 

Sie akzeptiert, dass ich niemand bin, der gerne oder viel redet - und dafür bin ich ihr dankbar.

Ich stehe langsam auf, schnappe mir meine Klamotten und gehe ins Bad. Die warme Dusche hilft mir beim wach werden. Ich ziehe mir eine schwarze Jeans, ein weißes Top und einen olivgrünen Kapuzenpullover an. Es bleibt keine Zeit, mir die Haare zu föhnen. Ich renne runter, beiße in ein trockenes Brot und mache mich auf den Weg.

Es ist kalt und ungemütlich heute, ich habe vergessen, mir eine Jacke überzuziehen. Mit nassen Haaren und ohne Jacke beeile ich mich umso mehr. 

Es ist Montag: Das bedeutet Kunst & Kultur in der ersten Stunde und das wiederum bedeutet Ben. Wenn er denn überhaupt da ist, denn laut Kendra ist er ja oft abwesend.

Ich betrete den Raum und sehe ihn sofort. Er hat seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Mist.

Ich gehe auf ihn zu, ohne ihn anzublicken und setze mich ruhig auf den Stuhl. Er mustert mich kurz und schaut zurück auf sein Handy. Wieder ist er komplett in schwarz gekleidet und...

Sein linkes Auge ist in verschiedenen Blautönen unterlaufen und leicht geschwollen. Es sieht aus, als hätte er einen bösen Schlag abbekommen. 

„Ihr könnt euch heute in dem gesamten Gebäude ausbreiten, um ungestört an euren Vorlagen zu arbeiten.", ertönt die Stimme des Lehrers und reißt mich aus meinen Gedanken und meiner Neugier, was ihm wohl passiert sein könnte. 

Ich bin mir unsicher, ob er jemand ist, der sich ohne Grund oder wegen eines verflucht guten Grundes schlagen würde. Was es auch war, es muss schmerzhaft gewesen sein. 

Kendra und ihr Partner machen sich sofort auf den Weg. Im Vorbeigehen winkt sie kurz und mit einem ermutigenden Lächeln zu. Ich nicke mit einem gequälten Lächeln zurück und frage mich, wieso sie mich angesprochen hat. Sie scheint beliebt zu sein, noch dazu ein wirklich netter Mensch - und mir ist bewusst, dass ich auf den ersten Blick introvertiert und eigen wirken kann. Das hat mich noch nie sonderlich gestört, eher war ich froh darüber, mit fremden Menschen wenig kommunizieren zu müssen. 

„Sollen wir in die Mensa gehen?", holt mich eine tiefe Stimme aus meinen Gedanken. Ich nicke stumm. Ich hole das Buch über Florenz aus dem Regal, während Ben an seinem Tisch lehnt und auf mich wartet. Als ich näher komme, setzt er sich in Bewegung und ich folge ihm stumm. 

Wir setzen uns an einen Tisch am Fenster und ich nehme all meinen Mut zusammen, um ein Gespräch mit ihm zu beginnen, schließlich müssen wir irgendwie vorankommen - auch wenn keiner von uns sonderlich motiviert zu sein scheint.

„Ich... also ich habe letztes Mal dieses Buch gefunden und ein paar Seiten rausgesucht..."

Er lacht. Er lacht mich aus und ich weiß nicht, warum. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und sehe ihn unsicher und irritiert aus meinem Augenwinkel an.

„Okay, und was davon willst du machen? Mir ist es scheißegal." Wow, sehr charmant.

Ich starre ins Buch und blättere die Seiten hin und her. „Den klassischen Michelangelo finde ich langweilig. Vielleicht einen der Löwen vom Piazza della Signora?", flüstere ich, unsicher ob er gleich wieder lachen oder eine andere, unerwartete Reaktion hervorbringen wird. Er nickt und schaut mich das erste Mal nicht so an, als würde er mir gleich an die Gurgel gehen.

Wir teilen uns die Arbeit auf. Ich schreibe etwas über die Geschichte auf und er skizziert unseren Löwen. Er ist wirklich begabt, aber das sage ich ihm nicht. 

Hin und wieder habe ich das Gefühl, er würde mich anstarren. Es fühlt sich an, als würde sein Blick sich in meine Haut brennen und ich rutsche unruhig auf meinem Stuhl herum. Wenn ich hochblicke, ist sein Blick allerdings auf den Zeichenblock vor ihm gerichtet. Vielleicht bilde ich es mir nur ein... Wieso sollte er mich auch ansehen, wenn er doch sonst so super genervt von mir ist?

Eine andere Klingel als sonst ertönt. „Liebe Schüler, aufgrund eines undichten Daches sind wir gezwungen, den Unterricht heute um 10 Uhr zu beenden.", sagt der Direktor und diesmal bin ich es, die lachen muss. 

„Was ist so witzig?", fragt Ben. Ich verstumme sofort und überlege, ob ich überhaupt erklären kann, wieso ich gelacht habe. 

„Diese Schule ist einfach zum Lachen.", sage ich trocken. Nun grinst er, schaut auf sein Blatt und nickt.

Als es 10 Uhr ist steht er auf und dreht sich zum gehen um, ohne ein Wort zu sagen.

Er entfernt sich ein paar Schritte, bleibt stehen und sagt, ohne sich umzudrehen: „Danke." Ich kann meinen Ohren nicht trauen. „Wofür bedankst du dich bei mir?", frage ich mit belegter Stimme.

„Dass du mich nicht gefragt hast, woher das blaue Auge kommt.", sagt er und verschwindet.

Trust me, I am a Bad Boy. / AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt