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Ich betätigte die Klingel und wartete, bis jemand aufmachen würde.
Meine Tasche in meinen Händen umklammerte ich fester und starrte ich auf die Haustür.
"Hey", flüsterte ich als sie aufging.
Joe stand mit einem schwachen Lächeln vor mir und zog mich in eine feste Umarmung, genau das, was ich jetzt brauchte.
"Hi", wisperte sie gegen mein Haar, trotzdem verstand ich jeden Buchstaben.
Sie löste sich von mir, hielt mich aber trotzdem an den Schultern fest.
Ihr Blick sagte mehr als tausend Worte. Sie hatte Mitleid mir mir, aber ich wollte kein Mitleid haben. Ich wollte lediglich eine Freundin, die mit zur Seite stand.
"Na komm", meinte sie und nahm mir meine Tasche ab.
Ich trat in Joes eigene Wohnung und sah mich um.
So richtig kannte ich sie eigentlich gar nicht, fiel mir auf. Trotzdem spürte ich eine gewisse positive Verbindung zwischen uns.
Joe ließ mich in ihr Wohnzimmer eintreten. Es war sehr minimalistisch eingerichtet, so wie ein Schüler eben auskommen konnte. Doch sie hatte sich Mühe gegeben, um alles gemütlicher für mich herzurichten.
Ich lächelte sie warm an und nahm auf ihrer Coach Platz.
Die ganze Zeit war es so still, dass ich einen tropfenden Wasserhahn hörten konnte.
Meine Freundin setzte sich gegenüber von mir und legte den Kopf schief.
"Joe", flüsterte ich und wich ihrem Blick aus. "Es tut mir so leid, ich habe dich vollkommen vernachlässigt, keine Ahnung, wie -"
"Sirina."
Sie brachte mich abrupt zum Schweigen und ich hob meinen Blick.
"Wieso machst du dir Vorwürfe? Ich bin auch etwas Schuld an der Situation, ich habe mich vollkommen zurückgezogen."
Ich schluckte und atmete aus.
Ich war so sehr mit Adrien und seinem blöden Geheimnis beschäftig, dass ich selbst meine Freundschaft zu Joe vernachlässigt habe.
"Willst du darüber reden?", fragte sie mich ruhig nach einiger Zeit, doch ich rümpfte die Nase.
Ich brauchte eigentlich Ablenkung, aber vielleicht war es gut mit jemandem darüber sprechen zu können.
Tief atmete ich ein, doch ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
"Ich glaube, das zwischen Adrien und mir ..." Ich schüttelte meinen Kopf und sie verstand.
"Warum denkst du so?"
Ich lachte bitter auf.
"In einer Beziehung ist Vertrauen das Wichtigste, es ist die Basis, aber ich glaube, er ist einfach nicht ehrlich zu mir. Nein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er irgendwas vor mir verheimlicht", erklärte ich und Joe nickte.
"Vielleicht hat er seine Gründe, möglicherweise will er dich damit nicht belasten", schlug sie vor und ich rümpfte er erneut meine Nase.
"Ich hatte ihm deutlich gesagt, dass er seine Probleme gerne mit mir teilen kann, aber er will nicht, verstehst du?"
"Er ist einfach stur", meinte sie und ich nickte zustimmend.
"Wir haben uns wegen seinem Geheimnis vorgestern heftig gestritten", erzählte ich und Joe rutschte interessiert näher. "Seitdem kein einziges Zeichen von ihm."
Sie runzelte die Stirn.
Ich atmete heftig aus.
Es fühlte sich gut an, endlich meine Bedenken ihm gegenüber auszusprechen, aber ich wollte doch nicht unsere Beziehung hinschmeißen. Es gibt nichts, was man nicht zusammen schaffen konnte.
Er fehlte mir, seine Nähe, seine Wärme und die Berührungen.
"Vielleicht habe ich es einfach verdient", meinte ich gedankenverloren. "Das Schweigen. Ich hatte ja schon indirekt eigentlich das Ende unserer Beziehung eingeläutet."
Joe erschrak förmlich.
"Sirina, sag so etwas nicht", rief sie und berührte sanft meinen Arm. "Sicher, Adrien meldet sich nicht, was total untypisch ist, aber vielleicht braucht er einfach selber Zeit, um sich bewusst zu werden, dass die Wahl immer auf dich fallen wird."
Ich lächelte sie an.
"Danke, Joe", wisperte ich und drückte ihre Hand.
Sie war die Stütze, die ich jetzt brauchte.
"Genug von mir, was ist bei dir zur Zeit los?", fragte ich stattdessen und Joe grinste.
"Eigentlich ist alles beim Alten", murmelte sie und ich nickte.
"Sag mal, lebst du hier alleine?"
Sie lächelte und neigte ihren Kopf.
"Alles selbst bezahlt."
Ich staunte nicht schlecht.
"Du arbeitest doch nicht einmal", überlegte ich, doch zuckte nur mit ihren Schultern.
"Als ich noch bei meinen Eltern in meiner Heimatstadt gewohnt habe, war ich Kellnerin."
Anerkennend nickte ich und überlegte.
"Du hast mir nie erzählt, wieso du hier her gezogen bist", meinte ich und Joes Blick verdunkelte sich.
Mit dieser düsteren Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Auf keinen Fall wollte ich sie zu irgendetwas zwingen, es war ihre Vergangenheit.
"Es ... Es tut mir leid, ich wollte nicht-"
"Nein, schon in Ordnung", meinte sie und stand auf.
Sie lief zielsicher zu einem Schrank, holte eine Box heraus und setzte sich wieder zu mir.
Ihre Stimmung war getrübt, und ich war wieder einmal diejenige, die Schuld daran war.
Vorsichtig hielt sie Zeitungsschnippsel in den Händen und übergab mir diese.
Ich schluckte und nahm sie zitternd entgegen.
'Junge tot durch Tierangriff'
Irritiert sah ich sie an.
"Wer ist das?", flüsterte ich und sah sie eindringlich an, doch sie lächelte nur schwach.
"Das ist Arthur", erklärte sie leise und ich sah das Bild neben dem Artikel an.
Der Junge sah ziemlich fröhlich aus, vielleicht achtzehn, aber trotzdem reif.
"Ist er dein Bruder?", fragte ich vorsichtig nach, doch sie schüttelte ihren Kopf.
"Er war mein- ", begann sie, doch ihre Stimme brach ab. Zur Unterstützung griff ich nach ihrer Hand, die sie lächelnd annahm. "Er war mein Freund."
Ich nickte einfühlsam. Ihr Freund wurde angegriffen und starb bei diesem Vorfall.
"Ich wollte einfach weg von diesem Ort, keiner hat meine Trauer richtig verstanden", kommentierte sie und ich verstand sie zu einhundert Prozent. "Jeder meinte, dass es nur eine kurze Liebe war, aber er war wirklich mein Seelenverwandter, und ihn tot zu sehen, war, als würde eine Welt für mich einstürzen."
Das keiner sie verstand, kränkte mich. Sie litt, und keiner konnte es nachvollziehen.
"Ich hab' meine Koffer gepackt und bin los gefahren", meinte sie. "Bis ich hier gelandet bin."
Ich lächelte sie an.
Ich schätzte es unheimlich wert, das Joe mit mir ihrer Vergangenheit nochmals durchlebte und sie mit mir teilte, das zeigte von großer Stärke.
"Ich bin immer für dich da", wisperte ich. Mit war es wichtig, dass sie wusste, dass sie immer zu mir kommen konnte, wenn sie Probleme hatte.
Sie lächelte mich warm an.
"Das weiß ich, danke", murmelte sie und betrachtete ihren ehemaligen Freund.

PainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt