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Joes Augenbrauen zogen eine Linie. Das machte sie immer, wenn sie angestrengt nachdachte.
"Ich denke, wir sollten den Kinobesuch streichen und dafür noch in den neuen Laden rein schnuppern", meinte sie und ich grinste sie an.
"Was immer du willst."
Sie richtete sich von meinem Bett hoch und steckte sich den Bleistift hinter ihr Ohr.
"Du musst auch deine Meinung dazu äußern, ich will dich nicht langweilen", entgegnete sie auffordernd und lehnte sich gegen mein Bettgeländer zurück.
"Schön", antwortete ich und ließ mich ebenfalls auf mein Bett fallen. "Dein Zeitplan gefällt mit wirklich gut, er ist durch strukturiert und das brauche ich jetzt in meinem Leben."
Sie nickte zustimmend und sah auf das Blatt Papier. "Es ist ein Meisterwerk."
Ich lächelte und schüttelte leicht meinen Kopf.
Joe wollte nach langem wieder etwas mit mir unternehmen, ein richtiger Mädelstag. Sie plannte die komplette nutzbare Zeit, damit ich dem ganzen Chaos namens Leben für 24 Stunden entkommen konnte. Sie wollte mich von allem ablenken und das war auch gut so.
"Okay, dann lass uns loslegen, wir hängen nämlich schon vier Minuten hinterher", meinte sie und stand rasch auf. So schnell, dass sie die Hälfte meiner Nachtischkommode runterschmiss, doch alles genauso gut wieder auffing.
Ich merkte an ihrem Blick, wie sie den fehlenden Bilderrahmen entdeckte, doch sie sagte kein Wort.
Mir ist klar, dass meine Beziehung mehrere Monate ging, sie aber mittlerweile auch seit einigen Wochen her ist, deshalb musste ich es langsam zulassen, darüber sprechen zu können. Aber ich war einfach noch nicht so weit. Es war unmöglich darüber hinwegzukommen, wenn ich Adrien Tag für Tag in der Schule sehen musste.
"Alles gut?", fragte Joe mich, denn ich fixierte den Platz, wo der Bilderrahmen hingehörte.
Der springende Punkt ist allerdings, dass ich durch das Familienchaos sehr abgelenkt wurde. Man könnte fast sagen, es hat mir geholfen, mich nicht zu sehr in der Trauer zu verlieren. So absurd es auch klang.
Keinen Bilderrahmen zu sehen war vor ein paar Wochen noch unerträglich gewesen, doch ich merkte jeden Tag, wie es mir ein Stück leichter fiel, ohne Adrien auszukommen - das hatte ich auch bereits die ersten 17 Jahre meines Lebens geschafft.
Ich sah sie an und lächelte.
Joe reichte mir meine Tasche und wir liefen erst runter in den Flur, dann zur Bushaltestelle.
In dem Stadtzentrum angekommen, schlenderten wir von einem Laden zum nächsten. Wir probierten bestimmt jedes Teil an, dass sich auch nur in unserer Nähe befand. Joe war diejenige, die auch fast alle Teile mitgehen ließ.
Zur Mittagszeit entschieden wir und für ein kleines, abgelegeneres Restaurant. Wir liefen zu einem freien Platz am Fenster. Joe erzählte mir gerade von ihren Plänen nach der Schule.
"Zuerst fliege ich nach Mexico", zählte sie auf und hob ihren Zweigefinger. "Dann Brasilien, dann rüber nach Frankreich, dann Thailand und Indien."
Ich lächelte sie an. "Etwa alleine?"
Sie zuckte gelassen mit ihren Schultern. "Wenn du nicht mitkommst, dann eben schon." Ich war mit nicht sicher, ob dass eine indirekte Bitte war, doch Joe fuhr unbeirrt fort. "Das Alleine sein ist für mich völlig in Ordnung, ich denke sogar, dass ich das echt gebrauchen könnte."
Die Kellnerin kam und nahm unsere Bestellung auf. "Alles stehen und liegen lassen. Mir die Welt anschauen. Nur ich und ein Rucksack."
"Das klingt wirklich schön", murmelte ich und stützte mein Kinn auf meiner Hand. Joe hob die Augenbrauen.
"Du solltest mitkommen! Weg von hier, weg von dem öden Alltag und weg von allen Menschen, die dich nur runterziehen."
Joe hatte recht und das wusste sie auch. Diese kleine Stadt beinhaltet so vieles, was einen zum wegreisen verleitet - ganz oben auf der Liste: Claire. Doch hier verbrachte ich meine Kindheit, meine Jugend. Hier wohnte meine Familie, so kaputt sie auch war, und das konnte ich doch nicht einfach zurück lassen.
"Sirina, hör auf dir darüber den Kopf zu zerbrechen, wiedermal."
Ich nickte schließlich und widmete mich dem Essen.
Das Thema Zukunft beließen wir dabei und quatschten eins nach dem anderen ab.
Es tat so gut, einen normalen Tag zu verbringen. Meine Sorgen schienen aufeinmal meilenweit entfernt zu sein.
Als nächstes stand auf dem Zeitplan, eine Mani- und Pediküre bei Joes absolutem Lieblingswellnessladen.
Ich hatte von so etwas wirklich keine Ahnung, denn auf mein Äußeres zu achten, war mir wirklich erst seit diesem Jahr wichtig geworden, doch es tat gut mal etwas Neues auszuprobieren.
Die Sonne ging schon langsam unter. Joe und ich liefen gerade den Bürgersteig entlang. Die letzten Geschäfte abzuklappern war fast eine Qual für mich, meine Füße schmerzten höllisch, trotzdem war der Tag einer der Schönsten in meinem Leben. Kein einziger Gedanke an mein chaotisches Leben.
Joe brachte mich schon den ganzen Tag zum Lachen, sie lenkte mich ab, indem sie einfach eine gute Freundin war. Es war einer dieser Momente, in denen ich merkte, wie sehr ich Joe in mein Herz geschlossen hatte und ich wollte sie niemals verlieren.
Ich lachte, denn Joe zog eine Grimasse als sie den Blick der Kassiererin nachmachte.
"Ich sage dir, die dachte wirklich, ich sei verrückt", meinte sie und ich schüttelte lächelnd den Kopf.
"Du hast ja auch das halbe Sortiment anprobiert."
"Das ist nicht wahr", schmollte sie und ich hob meine Augenbrauen, denn wir wussten beide, dass sie log.
"Gut. Möglich, dass ich das ein oder andere Oberteil angezogen habe."
Wir bogen in die Straße ein, in der Joe lebte, doch nach ein paar Schritten blieb ich ruckartig stehen.
Joe bemerkte das aber erst nach ein paar Momenten. Sie schaute mir fragend ins Gesicht, doch ich konnte meinen Blick nicht von demjenigen nehmen, der mich genauso anstarrte, wie ich ihn.
Mein Körper erzittert, Gänsehaut brach aus, gefolgt von Schweiß und Hitze. Mein Puls erhöhte dich und schlug ein paar Frequenzen schneller. Das Blut schien in meinen Adern zu gefrieren, es rauschte in meinem Ohr. Mein Mund war staubtrocken.
Adrien stand ein, vielleicht einandhalb Meter vor mir, neben ihm Ruby, doch sie interessierte mich in diesem Moment nur wenig.
Die Zeit schien wie still zu stehen, Geräusche nahm ich nur noch gedämpft wahr. Alles andere rückten völlig in den Hintergrund.
Es war nicht so, dass ich Adrien nicht in der Schule sah, doch ich ging ihm so gut es ging aus dem Weg.
Joes Körperhaltung ging auf Angriff. Es war fast so, als würde sie die Zähne vor ihm fletschen.
"Sirina", hauchte er und mir schossen Tränen in die Augen. Ich versuchte sie sofort wegzublinzeln.
Es war ein einziges Wort, ein einziger Name, doch es war mein Name. Es brachte soviel in mir zum Vorscheinen, von dem ich gedacht hätte, es überwinden zu haben - dabei hatte ich es nur unterdrückt.
Adriens Blick war so mitfühlend, so bittend, doch ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Er war der Grund dafür, dass ich Nächte durchgeweint hatte, dass es mir unzählige Tage schlecht ging. Und jetzt, als ich dachte, ich sei an dem Punkt angekommen, an dem ich mich von ihm losreißen konnte, tauchte er auf und brachte mich mit einem einzigen Wort wieder an den Anfang.
"Ich muss mir dir reden", entgegnete er sanft, was mich nur noch mehr verwirrte.
Ich wollte nie wieder auch nur ein einziges Wort mit ihm wechseln. Ich musste mich von ihm fern halten.
Und wieso sagt er dann so etwas?
Er hatte klar und deutlich ins Gesicht gesagt, dass er definitiv nichts mehr mit mir zu tun haben wollte und das musste ich akzeptieren. Jetzt wollte ich nichts mehr mit ihm zu tun haben.
"Bitte", flüsterte er und sah mich liebevoll an. "Ich möchte dir endlich erzählen, was mit mir los war, ich möchte keine Geheimnisse vor dir haben."
Mir wurde schlecht. Wie konnte er diese Worte einfach so über seine Lippen bringen?
Es hat mich Monate gekostet, ihm darüber auch nur irgendein Wort zu entlocken, und jetzt, ganz plötzlich, war er bereit? War das ein schlechter Witz?
Sein Gesicht verriet mir jedoch, dass es ihm vollkommen ernst war, aber darauf konnte ich nicht zählen. Konnte ich nie. Ich war schon mal auf seine Tricks reingefallen, doch das machte ich definitv kein zweites mal mit.
"Sirina, bitte", meinte Ruby zustimmend und ich sah sie verwirrt an. Sie war eine Freundin für mich geworden, jemand, dem ich alles anvertrauen konnte, und jetzt schien sie mir so fremd.
Adrien machte vorsichtig einen Schritt auf mich zu, die Arme mir sanft entgegen gerichtet, doch ich konnte mich nicht rühren. Ich war wie festgenagelt, auf keinen Fall wollte ich Adrien wieder berühren.
Plötzlich stellte sich Joe zwischen uns und packte seinen Arm gewaltvoll, sie drängte ihn erstmal einen weiteren guten Meter weg von mir. Mir schien es als könne ich leichter atmen.
"Hör mal zu, du verdammtes Arschloch. Du hast meiner besten Freundin das Herz gebrochen, du hast sie erniedrigt und gedemütigt, du hast dich einen Dreck um ihre Gefühle gescherrt und jetzt tauchst du hier einfach auf und willst alles wieder gut machen, nur weil dir gerade langweilig ist?" Joe schrie schon fast, doch das war ihr im Moment völlig egal. "Du sprichst sie nie wieder an, du fässt sie auch nicht an, nein, du schaust sie nicht einmal an. Du hast sie nicht verdient, du dreckiger Idiot. Sie ist womöglich das Beste, dass dir je passiert ist, und du hast sie behandelt wie Scheiße. Geh' mir und ganz besonders ihr aus dem Weg, ansonsten verpasse ich dir so heftig ein blaues Auge, dass zwei daraus werden."
Ich sah Joe an, nein, wir alle sahen Joe an. Ich geschockt, doch zu hundert prozent stolz. Sie bewies mir immer wieder auf's Neue, dass sie mir eine gute Freundin war. Sie stand für mich ein und kämpfte auch für mich - so etwas, dass ich von mir selber nicht wirklich behaupten konnte. Ich hatte nicht den Mut Adrien zu sagen, was ich durchmachen musste, was er mir angetan hatte. Stattdessen stand ich nur regungslos vor ihm, ängstlich und  unbeholfen.
Adriens Blick wandte sich an mich, doch ich konnte nur das alles untermauern, was sie gerade gesagt hat. Was würde er auch anderes von mir erwarten? Dass ich ihm wieder so einfach in die Arme springen würde?
Ich zog Joe vorsichtig von Adrien weg, denn ich sah den Kampfgeist in ihren Augen förmlich glühen.
"Ich bitte dich, Sirina", wiederholte Adrien trotz Joes Ansage, doch ich hielt meinen Arm gegen ihn, um ihn auf Abstand zu bringen. Ich atmete tief ein und sah ihn an.
"Ich", begann ich mit zittriger Stimme, doch ich konnte meinen Problemen nicht immer aus dem Weg gehen. "Ich möchte dich nicht mehr in meinem Leben haben."
Adrien verzog das Gesicht zu einer qualvollen Grimasse.
Es tat mir immernoch so verdammt weh, ihn anscheinend leidend zu sehen, doch er verdiente genau das, was er mir auch angetan hatte.
"Es tut mir leid, aber das kommt alles zu spät", flüsterte ich und lief mit Joe an ihnen vorbei.
"Sirina", rief Ruby uns hinterher, doch ich ignorierte ihre Worte.
Es war mir egal, was Adrien dazu umgestimmt hatte, mir nun doch die Wahrheit zu erzählen, es war einfach alles viel zu spät.
"Ich in stolz auf dich. Du brauchst diesen Schlussstrich", sprach Joe auf mich ein und regte sich wieder über Adrien auf.
Ich nickte zustimmend, doch ich konnte mich nicht halten und drehte mich für ein paar Sekunden wieder um.
Adrien und Ruby sahen mir beide hinterher. Ruby schien etwas zu ihm zu sagen, ihn vielleicht aufzuheitern, aber in Adriens Gesicht sah ich nur Trauer, eine Menge davon, und etwas, dass aussah wie Schmerz, Schmerzen darüber, dass nun ich diejenige war, die ihm aus dem Weg gehen würde. Und das vielleicht für immer.

PainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt