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Ich atmete tief ein und dann wieder aus.
Als ich meine Augen leicht öffnete, kniff ich sie direkt wieder zu. Es war so hell, dass ich dachte, mir würde jemand mit einer Lampe ins Gesicht scheinen.
Nach einigen Momenten gewöhnte ich mich aber an das Licht und begann meine Augen erneut zu öffnen, diesesmal vorsichtiger.
Langsam sah ich mich um. Ich lag in einem Krankenbett.
Mein Blick schwenkte nach rechts und ich erkannte Adrien, der mich abwartend ansah.
Eine Welle der Erleichterung überrollte mich. Er war hier, er hatte überlebt.
Ich lächelte auf, schloss dabei aber wieder meine Augen. Würde mein Körper nicht erst hochfahren müssen, wäre ich ihm vermutlich direkt in die Arme gesprungen.
Das Aufwachen fiel mir unglaublich schwer, aber ich versuchte es weiterhin.
"Hey, Fremde", flüsterte er und malte mit seinem Daumen Kreise auf meine Handoberfläche.
"Hi, Fremder", hauchte ich. Sprechen war auch nicht gerade meine Stärke.
Plötzlich durchströmte meinen Kopf ein stechender Schmerz. Ich sog scharf die Luft ein.
"Ist alles okay?", fragte mich Adrien besorgt. Meine linke Hand fasste an meine Schläfe.
Ich sah ihn an, aber nickte lächelnd.
Mein Blick flog durch den Raum. Ich befand mich also in einem Krankenhaus.
"Weist du noch, was passiert ist?", fragte er sanft und zog meine Aufmerkamkeit auf ihn. Und ich hätte ihn wirklich Stunden ansehen können.
Langsam aber sicher prasselte alle Erinnerung auf mich nieder.
Ich nickte.
"Wie geht es allen?" Mein Stimme war so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob die Wörter wirklich meinen Mund verlassen hatten.
Seine Augen klebten förmlich an mir, aber ich genoss es. "Ihnen geht es gut."
"Und dir?"
Sein Lächeln löste bei mir Gänsehaut aus. "Es geht mir gut", raunte er und ich setzte mich auf. Er schien eine kleine Schramme am Kinn sowie an der Unterlippe zu haben. Ich war mir sicher, dass er noch viel schlimmere Verletzungen hatte, die durch die schnelle Wundheilung jedoch wieder verheilten.
"Was ist mit Claire?", fragte ich und er atmete aus.
Er ließ sich Zeit bei seiner Antwort, was mich wirklich nervös machte. "Sie ist an einem sicheren Ort und wird uns nie wieder belästigen."
Ich nickte. Das Gift hatte sie also nicht getötet. Erleichterung durchströmte meine Adern.
Ich traute mich fast gar nicht weiter zu fragen, doch meine Neugier siegte schließlich.
"Und Ian?"
Adrien presste kurz die Lippen aufeinander. Er wusste nicht, wie er es mir sagen sollte, doch ich war nicht dumm.
"Er ...", Adrien schüttelte den Kopf und ich verstand sofort.
Er war also wirklich tot. Unglaublich, dass Ian nicht mehr hier war, obwohl ich ihn nur einmal wirklich gesehen hatte.
Natürlich ging sein Tod nicht an mir spurlos vorbei, immerhin hat keiner den Tod verdient, doch wenn ich mich zwischen Adriens und Ians Leben entscheiden musste, würde ich immer und zu jeder Zeit Adrien wählen.
In dem Kampf ging es schließlich um Überleben.
Ich wollte Adrien auf gar keine Fall die Erinnerung an den Kampf wiederaufleben lassen, deswegen beließ ich das Thema.
"Wie geht's dir?", fragte er stattdessen mich und drückte meine Hand ganz leicht.
Ein wohliges Gefühl durchströmte mich.
Ich atmete tief aus. "Ich denke, mir geht's gut", schätzte ich meine Lage ein und setzte mich etwas auf. Dabei durchströmte mich ein unglaublicher Schmerz.
Ich entließ einen gequälten Schrei und Adrien rückte näher zu mir. Man sah ihm an, dass er vermutlich genauso litt wie ich. Er wollte mir den Schmerz nehmen, für den er sich schuldig fühlte.
"Du ... ähm", begann er und wandte den Blick ab. "Der Arzt meinte, dass du eine gebrochene Rippe und ein gebrochenen Unterschenkel hast, einige Prellungen und Schürfwunden."
Sein Gesichtsausdruck zeigte Reue und Mitleid.
Ich biss auf meine Unterlippe und riss links die Decke von meinem Bein weg. Ein weißer Gips zierte meinen gebrochenen Unterschenkel.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
"Gehen wird mir wohl etwas schwerfallen", versuchte ich die Situation aufzulockern, aber Adrien war gar nicht zum Lachen zu Mute.
Stattdessen machte er sich gedanklich Vorwürfe.
"Hör auf", entgegnete ich und er sah mich an. "Du gibst dir die Schuld für das alles."
"Aber ich bin auch Schuld daran!", fuhr er mich an, ließ den Kopf aber wieder in seine Hände sinken. "Ich hätte da sein sollen, ich hätte dir zur Hilfe kommen können! Dann wäre all das hier nicht passiert!" Mit einer Kopfbewegung auf mein Bein.
Ich griff nach seiner Hand. Er sollte nicht so denken, immerhin hat er nichts falsch gemacht. "Hey, sieh mich an", hauchte ich und er hob den Kopf. "Ich bin nicht dumm, ich treffe immernoch meine eigenen Entscheidungen. Und diese war auch eine von ihnen."
Adrien gab sich definitiv nicht zufrieden damit. "Du könntest tot sein, Sirina", raunte er und ich nickte.
"Bin ich aber nicht. Ich lebe, und darüber solltest du dich freuen, anstatt dir unnötige Vorwürfe zu machen. Adrien, du kannst nicht die ganze Welt vor mir beschützten."
Er biss die Zähne zusammen. "Wenn ich bei dir geblieben wäre, dann könntest du jetzt noch laufen, du wärst unversehrt davon -"
"Wenn du geblieben wärst, dann wäre alles vermutlich anders ausgegangen. Viel schlimmer, möglicherweise", unterbrach ich ihn. Adrien seufzte schließlich auf und nickte.
Ich wollte unbedingt nich mehr wissen, doch es klopfte an der Zimmertür.
"Hallo, Spätzchen", begrüßte mich zuerst mein Dad und meine Mom trat neben ihn.
"Wir wollten uns nur einen Becher Kaffee holen, da hörten wir, dass du aufgewacht bist."
Ich lächelte beide an, doch ich überlegte kurz. "Wie lange bin ich schon hier?"
"Zwei Tage", antwortete mir Adrien langsam.
"Zwei ganze Tage?", wiederholte ich und fasst mir erneut an die pochende Schläfe.
"Der Unfall ist ja auch nicht gerade auf die leichte Schulter zu nehmen", brachte meine Mom ein und ich warf Adrien einen Blick zu. Er wusste, was ich ihn indirekt fragen wollte.
"Erinnerst du dich noch daran?", fragte mein Dad und ich schüttelte den Kopf.
"Du wurdest von einem Auto angefahren."
Ich nickte langsam. "Ich erinnere mich langsam wieder", log ich leise.
Es trat eine kleine Pause ein, die Adrien aber nutzte und aufstand.
"Ich hole mir mal auch einen Kaffee", entgegnete er in einem gedimmten Ton. Widerwillig löste ich meine Hand von seiner und sah ihm nach, bis er mit einem letzten Blick den Raum verließ.
Nachdem er die Tür schloss, spürte ich die Blicke meiner Eltern auf mir.
"Also", begann meine Mom langsam. "Seit wann geht da wieder etwas zwischen euch?"
Ich fühlte mich irgendwie ertappt, obwohl ich nichts gemacht hatte.
"Wir sind nicht zusammen oder so, falls du das meinst", murmelte ich und senkte den Blick. Ich wusste ja selber nicht, wie es um uns stand, wie sollte ich es meinen Eltern erklären?
"Und weiter?"
Ich rümpfte die Nase. "Wir waren einfach zusammen unterwegs, wir haben wir viel geredet."
Das war immerhin nicht gelogen, nur ließ ich dabei das ein oder andere Detail aus.
Meine Eltern setzten sich beide auf meine Bettkante und warfen sich einen kurzen Blick zu.
"Sirina", begann mein Dad und blickte zu mir. "Wir wollen nur nicht, dass du dich in irgendetwas verrennst."
"Ich weiß", flüsterte ich.
"Du sollst dich nicht gleich wieder auf den Jungen einlassen, der dir das Herz gebrochen hat."
"Ich weiß", meinte ich etwas lauter. Ich wandte den Blick von ihren enttäuschten Gesichtern ab. Ich würde als Elternteil genauso reagieren, aber jetzt, wo ich die ganze Wahrheit kannte, konnte ich Adrien verstehen. Und verzeihen.
Natürlich verstand ich, dass sie sich als Eltern um mich sorgten, doch ich hatte mir das alles gut überlegt. Ich liebte Adrien wirklich, obwohl er mir so viel angetan hatte.
Mein Blick schweifte nach links zu meinem kleinen Nachttisch. Ein gelber Blumen zierten eine Glasvase.
"Vom wem sind die?", fragte ich nach, denn jeder, der mich kannte wusste, dass ich nur eine Sorte von Blumen am liebsten hatte. Diese Person jedoch nicht.
Meine Mom folgte meinem Blick und nickte. "Sie sind von Michael."
"Michael?"
Mein Dad räusperte sich. "Er war vorhin hier und hat sie für dich abgegeben, nachdem er gesehen hatte, dass du noch nicht wach warst."
Leicht hoben sich meine Mundwinkel.
Ich wusste gar nicht, dass er so besorgt um mich war, doch gleichzeitig freute ich mich über die nette Geste. Natürlich hoffte ich, dass er ebenfalls unversehrt geblieben ist. Ich war so auf Adrien fokusiert zu wissen, ob Adrien den Kampf überleben würde, dass mir alle anderen egal waren.
Es klopfte erneut. Zuerst dachte ich, Adrien käme wieder zurück, doch stattdessen lugte ein blonder Haarschopf durch den Türspalt.
"Joe!", grinste ich freudig und sah sie an.
Ich war so froh, dass sie hier war.
"Störe ich?", fragte sie unsicher nach nach und öffnete die Tür ganz.
Kopf schüttelnd richtete ich mich erneut auf.
"Wir lassen euch alleine", schlug meine Mom vor, was allerdings eher ein Befehl war.
Nachdem sie die Tür hinter sich zu gezogen hatten, näherte Joe sich langsam und blieb bei meiner linken Bettecke stehen.
"Wie geht's dir?", fragte sie nach und ich zuckte mit den Schultern.
"Es geht mir gut, allerdings sprechen da wahrscheinlich die Schmerzmittel aus mir", witzelte ich und sie lächelte.
"A-als ich das von dem Unfall gehört habe, bin ich sofort -", stotterte sie, doch ich wusste, wann meine beste Freundin log.
"Joe?"
Sie wurde abrupt still. Man sah ihr an, wie unsicher sie war, und ich hatte auch eine Ahnung, warum.
"Du weißt, dass ich keinen Unfall hatte", entgegnete ich sanft und sie wandte den Blick ab. Sie schürzte ihre Lippen.
Ich konnte verstehen, dass sie nicht sofort losreden wollte, deshalb half ich ihr.
"Ich weiß, dass du der hellbraune Wolf warst", murmelte ich und ihre Augen kreuzten die Meinen.
Sie ließ sich Zeit, doch ich gab sie ihr.
"Ich weiß von den Werwölfen", fügte ich hinzu und sie biss die Zähne zusammen.
Joe wirkte nervös, was ich absolut verstehen konnte.
"Warum hast du nichts gesagt? Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst."
Sie schnaubte. "Ich denke nicht, dass du mir das sofort abgekauft hättest."
Ich nickte. Es hatte auch wirklich lange gedauert, bis ich es akzeptieren konnte.
"Woher ... weißt du das von mir?"
Ich lächelte. "Um ehrlich zu sein, habe ich es an deinen Augen erkannt. Ich wusste, dass ich dieses Grün kennen würde. Außerdem hatte ich mich am deine unglaublich guten Reflexe an deinem ersten Schultag erinnert, und wie du mir von dem Unfall deines Freund erzählt hast."
Sie nickte. "Arthur ist wirklich von einem Tier angegriffen worden, nur wurde nicht erwähnt, dass er dabei selber auch ein Wolf war."
"Hast du", fragte ich nach einiger Zeit weiter, "nicht bemerkt, dass Adrien und die Anderen alle Werwölfe sind?"
Joe zuckte mit ihren Schultern.
"Ich hatte sie ja immer nur in der Schule gesehen. Dort laufen viele Wölfe herum, weißt du? Es ist schwer abzugrenzen, welcher Geruch von wem kommt."
Ich verstand. Es war viel Informationsfluss auf einmal, den man nicht einfach zuordnen konnte.
"Als wir Ruby und Adrien alleine begegnet sind, konnte ich es dann fühlen. Ich dachte, dass er dich nur ausnutzen würde, weil du eben ein Mensch bist und ihr nicht zusammen ..."
... gehören. Ich atmete aus und nickte. Es war immerhin nicht üblich, dass ein Mensch wie ich der Seelenverwandte eines Wolfes sein konnte. Sie hielt inne und entließ Luft aus ihren Lungen. "Deswegen bin ich auch so wütend geworden", fügte sie hinzu und ich lächelte.
Ich wusste, dass ich mich immer auf Joe verlassen konnte.
"Was mich allerdings immer wieder fasziniert hat, war, wie zärtlich ihr miteinander umgegangen seid. Das kannte ich nur von Arthur und mir, weißt du?", fügte sie hinzu und ich sah sie schüchtern an.
Mir fiel es nie wirklich auf, wie ich mich anders in Adriens Gegenwart aufhielt.
"Bei unserem Telefonat vor zwei Tagen wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Außerdem erzählst du mir wirklich immer alles", lächelte sie und ich lachte nickend.
"Stimmt."
"Ich bin also meinem Instinkt gefolgt. Ich hatte es einfach im Gefühl, dass du bei Adrien warst. Und siehe da: Ich hatte recht."
Sie hob die Augenbrauen und ich unterdrückte ein Lächeln.
"Also", begann sie erneut und betrachtete mich von oben bis unten. "Was ist das zwischen Adrien und dir?"
Ich wich ihrem Blick schnell aus und spielte stattdessen mir der Decke. Die Zweite, die mich das innerhalb von einer Stunde fragte.
Keine Ahnung, was ich ihr jetzt sagen sollte. Bei meinem Eltern fiel es mir nicht so schwer irgendetwas zu erzählen, aber bei Joe, die mich in und auswendig kannte, hatte ich keine Chance für Ausreden.
"Wir hatten uns am Anfang ein paar mal getroffen, aber nur, weil ich die Wahrheit von ihm hören wollte. Das hat auch, mit ein paar Umwegen, funktioniert bis Adrien mir von Ian und Claire erzählte", erklärte ich ihr. "Ich war dabei als sie mitbekamen, dass sie Adrien und sein ganzes Rudel angreifen würden. Adrien war ganz neben der Spur, deshalb ..." Ich biss mir kurz auf die Lippe. "... habe ich vorgeschlagen bei ihnen die nächsten Tage zu überbrücken."
Joe nickte, doch sie wusste, dass da noch mehr war.
"Die Tage in seiner Anwesenheit waren komischerweise wirklich schön, und so normal, verstehst du?" Fassungslos schüttelte ich meinen Kopf. "Da wir unter einem Dach wohnten, kamen wir nicht drum herum, uns zu unterhalten - sehr viel zu unterhalten, um ehrlich zu sein."
In meinem Kopf sah ich jedes einzelne Gespräch, jede Berührung und jeden Kuss. Automatisch setzte mir mir eine unkontrollierbare Gänsehaut ein.
"Irgendwann -", ich hielt inne. Ich war mir nicht sicher, wie Joe auf den nächsten Satz reagieren würde, doch ich musste ihr davon unbedingt erzählen. "-kam es zu einem Kuss, und seitdem herrscht in meinem Kopf ein Chaos." Kurz machte ich eine Pause, um mich zu vergewissern, ob ich mehr sagen sollte, aber was sollte mich aufhalten? "Doch i-ich liebe ihn, egal, was zwischen uns vorgefallen ist."
Das war das erste mal, dass ich die drei magischen Worte vor jemand anderem in den Mund nahm. Aber es fühlte sich gut an, auch wenn ich etwas nervös innerlich war.
Joe zeigte zuerst keinerlei Reaktion.
Ich befürchtete fast, sie hatte den letzten Satz ignoriert, doch dann räusperte sie sich.
"Und du bist dir ganz sicher?", fragte sie ernst, doch ich nickte gerade heraus. Natürlich konnte ich die Vergangenheit nicht ändern. Es war wirklich hart für mich, aber ich konnte mein Gefühle ihm gegenüber nicht leugnen, ich wollte es auch nicht.
"Wenn du glücklich bist, bin ich es auch", entgegnete sie nach einer langen Pause und griff nach meiner Hand. "Aber ab jetzt keine Geheimnisse mehr, verstanden?"
Ihr Blick war auffordernd, doch ich hatte keinerlei Zweifel.
Nickend lächelte ich ihr zu. "Ich verspreche es."

PainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt