Kapitel 19 - Kalila's Wut

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Blair

Unruhig schaue ich auf ihren schlafenden Körper herab und lasse meinen Blick zum gefühlt hundertsten Mal über ihr entspanntes, schönes Gesicht wandern, über ihr zerwühltes Haar und ihre Brust, die sich in regelmässigen Abständen hebt und senkt.

Alles an ihr ist wild und ungezähmt, kraftvoll und schön. Und alles in mir verzerrt sich nach dieser unbeschreiblichen Besonderheit, die sie voll und ganz ausmacht.

Wie von selbst gehen meine Gedanken zu dem Moment zurück, als ich das Privileg erhalten habe, ihr bei der Verwandlung zusehen zu dürfen. Hitze steigt mir zu Kopf, als meine Gedanken weiter wandern und ich sie vor meinem inneren Auge erneut sehe; fast nackt, graziös und weiblich, wunderschön und erhellend zwischen der absoluten Dunkelheit der Bäume. Ich sehe ihre funkelnden Augen in meinen frischen Erinnerungen, als der Wolf sich den Weg an die Oberfläche freikämpfte. Ich bin mit absoluter Sicherheit davon überzeugt niemals zuvor etwas vergleichbares, etwas schöneres gesehen zu haben, als Callisto in genau diesem Augenblick. Und es hat niemals zuvor etwas gegeben, dass mich glücklicher stimmte, als ihr seliges Lächeln zu sehen, nachdem sie ihr wahres Ich vollends akzeptierte.

Nur mit viel Mühe und Not schaffe ich es heute Nacht aufzustehen und sie im Hotelzimmer zurückzulassen. Aber meine Schritte führen mich einmal mehr schneller durch die Nacht, nachdem ich sie nicht an meiner Seite ist, mit dem klaren Ziel, so schnell wie nur irgend möglich zu ihr zurückzukehren.

Je öfter ich mich nachts raus schleiche, desto eher komme ich mir vor wie ein widerlicher Mistkerl, der seine Ehefrau betrügt. Ich kann nichts gegen das sich einschleichende Gefühl der Schuld unternehmen, das sich eiskalt und hart in meinem Bauch abgesetzt hat und je länger ich mein Rudel heimlich treffe, desto schlimmer wird es. Ich sage mir stets, dass es bald nicht mehr so sein wird, und das bald der Moment kommen wird, in dem ich ehrlich sein muss und Callisto alles erfahren wird.

Bleibt nur noch zu hoffen, dass sie mir dann auch verzeiht.

Die Strassen sind menschenleer. Allerdings ist das nicht weiter verwunderlich, denn es ist eine sehr abgeschiedene Gegend, in der man sich nachts besser nicht alleine aufhält. Wegen Typen wie mir, nehme ich an.

Morgan und Kalila warten bereits auf mich, als ich um die Strassenecke laufe und sie wie üblich an ihrem Van stehen sehe. Der Motor des Wagens läuft noch, sodass die elektrischen Scheinwerfer brennen und einigermassen akzeptables Licht spenden. Trotzdem sehe ich das Leuchten der Zigaretten in der Dunkelheit, als ich näher komme.

Kalila's Miene verzieht sich grimmig, als sie mich erblickt. Ihre Augen glitzern angriffslustig, als ob sie nur darauf gewartet hat, einen Streit mit mir vom Zaun zu brechen. Ein jeder normaler Mensch hätte den animalischen Zorn darin nicht erkannt, ich allerdings schon.

Als Wolf hat sie eine beeindruckende Gestalt und so kurz vor dem Vollmond ist es eine schlechte Idee, sie zu reizen. Obwohl es eigentlich immer eine schlechte Idee ist, sie zu reizen; Kalila ist so aufbrausend, so temperamentvoll, dass es für zwei von uns reichen würde und in ihrer Wolfsgestalt deshalb umso unberechenbarer.

»Na endlich«, keift sie, als ich in hörbarer Nähe bin.

Augen verdrehend ignoriere ich ihre spitze Bemerkung und nicke Morgan zu. Vincent scheint heute nicht dabei zu sein, worum ich irgendwie ganz froh bin. Seine ständig gute Laune und sein endloser Optimismus macht mir in letzter Zeit echt zu schaffen.

»Wir haben neue Befehle«, beginnt Morgan ohne Umschweife.

An seinem etwas gehetzten Blick kann ich ausmachen, dass er nicht besonders glücklich darüber ist mir diese Nachricht zu überbringen.

»Was für Befehle?«, frage ich schnell.

»Der Alpha will Callisto«, meint er schulterzuckend, »und zwar sofort.«

»Wieso?«

»Was spielt das für eine Rolle?«, mischt sich Kalila in das Gespräch ein und stellt sich kaum merklich vor Morgan, um meine volle Aufmerksamkeit zu erlangen, »Was treibst du mit dem Mädchen? Was ist so besonders an ihr, dass du sie uns nicht schon längst gebracht hast?«

»Sie war bislang nicht der Auftrag«, erwidere ich schnell, auch wenn ich selber höre, wie lahm diese Ausrede klingt.

»Doch, das war sie.«

»Der Alpha wollte nur den Stein«, knurre ich in Richtung von Kalila und stelle mich bedrohlich vor ihr auf. »Halt dich zurück!«

Sie hebt spöttisch eine Augenbraue und lässt ihren Blick an mir auf und ab wandern, als hätte sie mich noch nie zuvor gesehen.

»Jetzt sieht die Lage anders aus, Blair. Und du bist dem Rudel verpflichtet, niemand anderem. Also bring die Kleine her, oder wir holen sie eigenhändig!«

Keine Sekunde zweifle ich daran, dass sie ihre Worte in Tatsachen wandeln wird, wenn ich ihrer Forderung nicht nachkomme. Sie kann skrupellos und brutal sein, wenn sie es muss und ohne dabei den Hauch eines schlechten Gewissens zu empfinden.

Einen Schritt trete ich auf sie zu, sodass wir nur knapp eine handbreit voneinander entfernt stehen, und lege all meine Abscheu und meinen Zorn in meinen Blick.

»Wenn du sie anrührst, werde ich dafür sorgen, dass es das letzte ist, was du tust«, flüstere ich so leise, dass meine Stimme in der Stille der Nacht zu einem unheilvollen Knurren anschwillt.

Kalila entfährt ein spöttisches Lachen, doch ich kann ihr ansehen, dass sie mit meinen Worten nicht gerechnet hat. Und sie weiss auch, dass das keine leere Drohung ist.

Morgan stellt sich schützend vor Kalila. Er sieht mich entgeistert an, als könnte er nicht fassen, was ich gerade eben zu ihr gesagt habe.

Und tatsächlich bin ich selber etwas überrascht wegen meiner unverhofften Gewaltandrohung; es sieht mir nicht ähnlich, gegen mein eigenes Rudel zu handeln. Loyalität ist alles, was ich noch habe. Und es hält meine Familie zusammen.

»Blair, was ist nur los mit dir?«, ruft Morgan, gerade in dem Moment als ich mich ein paar Schritte von den beiden entfernt habe, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Callisto hat alles in meinem Leben geändert, einschließlich meiner unberechenbaren Gefühle. 

»Er spinnt«, giftet Kalila hinter der grossen Gestalt unseres Bruders hervor, »er ist komplett übergeschnappt!«

»Was ist mit diesem Mädchen, Blair?«, will jetzt auch Morgan wissen, »du kennst sie ein paar Wochen und entscheidest dich für sie? Wer ist sie? Kennst du sie von früher?«

Ich gehe nicht auf die Versuche der beiden ein, irgendetwas wissenswertes von mir in Erfahrung zu bringen. Nicht nur, weil ich selber nicht so genau weiss, was Cali mit mir anstellt und was sie für mich ist. Vor allen Dingen muss allerdings niemand wissen, dass sie in den wenigen Tagen unserer Begegnung zu meiner grössten Schwäche geworden ist.

»Vergiss es einfach, Morgan«, meint Kalila, »Blair erinnert sich nicht an früher und offenbar scheint er diesem Mädchen mehr zu vertrauen als uns.«

»So ist es nicht«, verteidige ich mich sofort, auch wenn es klar auf der Hand liegt, dass es durchaus so ist.

Es gibt verschiedene Gründe, wieso ich Callisto in dieser Situation vorziehe. Unter anderem weil sie die Gejagte ist und keiner von uns weiss, wofür wir eigentlich kämpfen und wem wir unsere Treue geschworen haben. Der Alpha will Cali, - oder will den Stein -, aber wofür? Und solange ich das nicht weiss, werde ich sie nicht einfach so gedankenlos ausliefern.

»Ihr müsst mir einfach vertrauen«, rudere ich schnell zurück, »ich tue das Richtige.«

»Vertraue du auf meine Worte«, verspricht Kalila nun mit todernster Miene, »wenn du Callisto nicht in einer Woche zusammen mit dem Stein zu uns bringst, holen wir sie eigenhändig.«

SilbermondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt