Kapitel 29 - Lyra ist eben Lyra, und sie tut was ihr beliebt

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Callisto

Die Sonne geht auf und taucht den Horizont in die schönsten Farben, die man sich nur denken kann. Verschiedene Töne in Gelb, Orange und Rot vermischen sich mit dem natürlichen Blau des Himmels und den unterschiedlichsten Formen der schneeweissen Wolken. Der Himmel steht in Flammen und der Anblick lässt mein schweres Herz schmerzlich zusammenziehen. Es weckt eine ungesunde und vielleicht ein wenig grundlose Melancholie in mir an, deren genauen Ursprung ich nicht benennen kann.

Ich höre nasse Schritte auf dem Sand, die meinen seligen und einsamen Frieden stören, und gleich darauf setzt sich meine Schwester neben mich auf die hölzerne Bank.

Die Kälte des Winters kann mir nichts anhaben, doch Lyra scheint eindeutig zu frieren, denn sie zieht sich die dicke Winterjacke enger um den Oberkörper als sie sich neben mich setzt und vergräbt ihre Hände in den Jackentaschen.

Schweigend quittiere ich ihre Anwesenheit indem ich sie ignoriere und weiterhin auf den Horizont blicke. Das schwache Licht der Sonne wärmt mein Gesicht kaum merklich und ich geniesse die Kälte, die sich keineswegs von der Wärme beeindrucken lässt.

»Bist du wütend auf mich?«

»Nein.«

»Sicher?«, hakt sie nach, »denn ich würde dir gerne noch etwas zeigen.«

Neugierig wende ich den Blick vom Horizont und schaue Lyra an. Unsere Blicke treffen sich und ihr sanftes Gesicht taut in einem kleinen Lächeln auf. Ihre Wangen und ihre Nasenspitze sind von der unerbittlichen Kälte gerötet und ihr Atem zeichnet weisse Wölkchen in die Luft zwischen uns.

Auffordernd hebe ich eine Augenbraue und warte darauf, dass sie fortfährt. Doch Lyra sagt nichts, stattdessen holt sie einen cremefarbenen, zerknitterten Umschlag aus ihrer Jackentasche und augenblicklich weiss ich, dass es einer der Briefe sein muss, die unsere Mutter geschrieben hat. Erschöpft atme ich tiefe ein und wende den Blick ab.

Ich weiss wirklich nicht, ob ich jetzt noch mehr Informationen verkrafte.

»Sie hat ihn an mich geschrieben, doch ich finde, es geht uns beide etwas an«, sagt Lyra.

Ein weiteres Mal hält sie mir den Umschlag unter die Nase und ich merke, wie sehr Lyra darauf besteht, dass ich ihn an mich nehme.

Das weiche Papier fühlt sich zerbrechlich unter meinen Fingerspitzen an, als ich es an mich nehme. Meine Augen fahren gemächlich über den dicken Falz in der Mitte des Umschlags, der vermuten lässt, dass Lyra in unzählige Male auseinander und wieder zusammengefaltet hat, um den Inhalt zu lesen. Mein Daumen drückt auf die zerknitterte Stelle in der Mitte des Papiers. Dann wechsle ich einen weiteren Blick mit Lyra. Sie nickt bekräftigend und so mache ich mich daran, den Umschlag auseinander zu falten und den Brief darin hervorzuholen.

Ich erkenne die krakelige Handschrift unserer Mutter von den wenigen Zeilen, die sie bisweilen an mich geschrieben hat und die ich auch tatsächlich gelesen habe. Ich bin mir durchaus bewusst, dass in meiner Box noch einige Briefe mehr liegen, doch bislang konnte ich mich nicht dazu durchringen, sie zu lesen. Manch einer hätte sich vermutlich wortwörtlich auf die Briefe unserer Mutter gestürzt um jegliche Informationen aus einem längst vergessenen Leben zu bekommen, aber irgendwie hat sich mein eingerosteter Geist bisher nicht dazu überreden lassen.

Vielleicht fürchte ich mich davor, was ich in den Briefen tatsächlich lesen werde. In den letzten Wochen habe ich so verzweifelt nach der Wahrheit über den Fluch und den Verbleib von Lyra gesucht, dass alles was nun danach kommt eine heillose Überforderung für mein erschöpftes Gefühlsgut ist.

Unsicherheit und Angst halten mich zudem davon ab, die restlichen Briefe unserer Mutter zu lesen, denn je mehr ich erfahre, desto sicherer bin ich, dass darin enthaltene Wahrheiten nach dem Lesen unwiderruflich alles verändern werden.

SilbermondWhere stories live. Discover now