Kapitel 11 - Lyra's Tagebücher

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Callisto

Sonnenschein dringt durch die Vorhänge in Lyra's Zimmer. Energisch reisse ich sie zurück und lasse das grelle Licht herein. Ich sage mir, dass verzweifelte Situationen verzweifelte Massnahmen erfordern und rede mir ein, dass es in Ordnung ist, hier zu stehen und drauf und dran zu sein, Lyra's Sachen zu durchsuchen.

Unschlüssig bleibe ich an ihrem Fenster stehen und schaue einen Moment auf das geschäftige Treiben auf der Strasse unter unserer Wohnung hinab. Diese gewöhnlichen Menschen, mit ihren ganz gewöhnlichen Problemen, leben ihr Leben weiter, als würden auf dieser Welt nicht andauernd irgendwelche merkwürdigen Dinge passieren. Während sich für mich mein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt hat und nichts mehr so ist, wie es einmal war. Plötzlich bin ich umgeben von allerlei mystischen Dingen wie Werwölfen und Hexen, Flüchen und einer entführten kleinen Schwester. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, ist da noch dieser schlafende Typ in meinem Wohnzimmer, der mich vollkommen durcheinander bringt und Erinnerungen aus einem anderen Leben zurück an die Oberfläche holt, obwohl ich dafür eindeutig noch nicht bereit bin.

Unter diesen Umständen hoffe ich wirklich sehr, dass Lyra bereit ist mir zu verzeihen, sobald dieser Albtraum vorbei und sie endlich wieder Zuhause ist. Ihr Chaos kann ich auf jeden Fall nicht wieder unbeschadet herstellen wenn ich fertig bin, ihre Sache zu durchwühlen. Sie muss mir also verzeihen.

Kopfschüttelnd schaue ich auf all den Kram nieder, der ihr gehört. Ich seufze, dann gehe ich zu ihrem Bett und ziehe die Bettdecke zurück. Wie bei mir ist die Matratze von Gegenständen und losen Papieren übersät, aber nichts davon scheint verdächtig zu sein. Dann schaue ich die vielen Gläser und Dosen durch, die auf ihren Regalen stehen, finde allerdings nur unauffällige Malutensilien. Bis ich schliesslich auf allen vieren über den holzigen Boden krieche und in dem ganzen Durcheinander etwas hilfreiches zu finden hoffe.

Halb unter ihrem Bett, höre ich ein sanftes Klopfen an der geöffneten Zimmertür. Wie ein Kleinkind krieche ich unter dem Bett hervor und schaue Blair entgegen, der ein amüsiertes, aber auch fragendes Lächeln auf den Lippen hat. Er hebt eine Augenbraue, als ich mich erhebe. Er hat sich an den Türrahmen gelehnt, sieht dabei völlig lässig und cool aus und in seiner Hand hält er einen heiss dampfenden Kaffeebecher, aus dem es herrlich duftet.

»Was machst du da?«

»Wonach sieht es denn aus?«, gebe ich zickig zurück, »ich durchsuche das Schlafzimmer meiner kleinen Schwester.«

Dann knie ich mich neben ihr Bett und öffne die Schubladen ihres Nachttisches, indem ein ähnliches Chaos herrscht, wie ausserhalb der Schublade. Ich stöhne genervt auf.

»Kann ich dir helfen?«

Ich werfe ihm einen bösen Blick zu, auch wenn ich weiss, dass es unfair ist ihn aufgrund meines schlechten Gewissens so grässlich zu behandeln. Es ist nicht seine Schuld, dass ich das hier tun muss.

»Sicher nicht. Es ist schon schlimm genug, dass ich ihre Privatsphäre untergrabe ... Gott, sie wird mich dafür hassen. Und ich hasse mich auch dafür«, brumme ich.

Meine Hände greifen in diesem Moment nach einem kleinen Stoffetui und ohne wirklich darüber nachzudenken, ziehe ich den Reissverschluss auf. Darin finde ich - Kondome. »Oh mein Gott, na wunderbar.«

Blair scheint meinen Fund ebenfalls gesehen zu haben und verbirgt sein amüsiertes Lächeln hinter der Kaffeetasse. Ehrlich gesagt, bin ich froh, dass er das tut, denn ansonsten hätte ich für nichts garantieren können!

»Wie alt ist deine Schwester noch gleich?«, will er dann wissen. Das raue Poltern in seiner tiefen Stimme ist eindeutig als Lachen zu identifizieren.

Mit stampfenden Schritten erhebe ich mich erneut und gehe wütend auf ihn zu. Ich pfeffere das kleine Etui Aggressionsgeladen in seine Richtung, ohne wirklich hinzusehen.

»Eindeutig zu jung, als das ich so etwas in ihrem Zimmer vorfinden will!«

Blair hebt zum Sprechen an, aber nachdem er meinen Blick gesehen hat, hält er inne.

»Ganz recht überlege dir gut, was deine nächsten Worte sind, denn lasse dir eines gesagt sein, mein Freund, ich bin gerade nicht zum spassen aufgelegt.«

Mit diesen Worten drehe ich mich um und laufe erneut wie eine Irre durch's Zimmer. Ich habe keine Ahnung, wonach ich eigentlich suche, aber irgendetwas muss ich einfach finden. Blair hatte nämlich mit einem recht: Es muss einen Grund geben, dass diese Männer meine Schwester mitgenommen haben. Lyra muss etwas gewusst haben, oder zumindest etwas wichtiges herausgefunden haben, immerhin wurde sie entführt nachdem sie einen Hexentalisman gefunden hat, der die dunkle Flüche einer abgrundtief mächtigen Hexe bindet. Und auch wenn mir bei dem Gedanken fast schlecht wird, dass sie nicht mit mir darüber sprechen wollte, so weiss ich auch, dass sie ihre Gedanken und Gefühle wenigstens irgendwo hier, in diesem Saustall von Zimmer, dokumentiert oder aufgehoben hat. Lyra war noch nie besonders gut darin, etwas vor mir zu verbergen, geschweige denn, wahre Geheimnisse zu hüten, doch das muss ihr wichtig gewesen sein. Und ich werde es finden.

»Ich hoffe, du findest keine Tagebucheinträge«, meint Blair trocken, »oder Fotos.«

Ich weiss, dass er mich provozieren will, allerdings habe ich nicht vor, mich darauf einzulassen.

Ich lasse meinen Blick abermals ratlos über ihr Zimmer wandern und bleibe an einem Regalbrett hängen, das als einzigstes über dem Kopfende ihres Bettes angebracht wurde. Darauf stehen aber keine Malsachen, so wie auf allen anderen, sondern Notizbücher in allen Grössen. Mit zielsicheren Schritten gehe ich darauf zu und nehme das erste in die Hand, das ich in die Finger bekomme. Sofort erkenne ich die Handschrift von Lyra, als ich es aufklappe. Die Seiten sind über und über mit Worten und Sätzen beschrieben, manchmal kommt sogar ein gemaltes Bild hervor oder Fotos fallen aus den vergilbten Seiten heraus.

Es ist tatsächlich ein Tagebuch! Aber ganz anders als im klassischen Sinne: Lyra hat ihre Träume schriftlich festgehalten. Träume, von denen sie dachte, dass es sich dabei um Erinnerungen handelte. Die ältesten Einträge gehen bis vor drei Jahren zurück.

Vollkommen schockiert hebe ich die Hand an meinen Mund, während ich ein paar Ausschnitte von Lyra's schrecklichen Träumen lese. Aufgewühlt blättere ich durch die Seiten und lese aus den Einträgen heraus, dass sich während der letzten paar Monaten etwas verändert hat. Ihre Träume wurden intensiver und Lyra hat versucht, herauszufinden, was es damit auf sich hat. Die Träume haben sie teilweise bis in ihre Wachzustände verfolgt und manchmal konnte sie die Realität nicht mehr vom Traum unterscheiden. Es hat sie fast verrückt gemacht.

»Etwas gefunden?«

»Lyra hat versucht herauszufinden, wer wir einmal waren«, sage ich leise, »sie schreibt, dass sie sich auf die Suche nach unseren Eltern gemacht hat.«

Das letzte Notizbuch auf dem Regal ist nur bis zur Hälfte beschrieben und der letzte darin vorhandene Eintrag ist auf den Tag datiert, an dem sie nicht mehr Nachhause gekommen ist. Ich überfliege die wenigen Worte, die sie an diesem Morgen festgehalten hat und merke schnell, dass ich diesen Traum kenne. Von dem hat sie mir bereits ein paar Mal erzählt und mir steigen sofort Tränen der Verzweiflung in die Augen.

Es ist meine Schuld, dass Lyra sich offensichtlich alleine auf die Suche nach der Wahrheit gemacht hat. Ich war nicht für sie da. Ich habe ihr nicht zugehört und habe nicht gemerkt, dass es für sie unerträglich wurde, nicht zu wissen, wer wir wirklich sind. An jedem verstrichenen Tag fiel es mir schwerer, mit der Ungewissheit klar zu kommen und zu wissen, dass etwas fehlt. Diese Leere in meinem Inneren wurde von Tag zu Tag schlimmer und anstelle etwas dagegen zu unternehmen, habe ich den Kopf in den Sand gesteckt, kümmerlich resigniert und meine Schwester damit alleine gelassen. Für mich war es zu der Zeit einfacher, die Dinge zu ignorieren die in unseren Leben keinen Sinn ergaben und anstelle statt so zu tun, als wäre alles ganz normal.

Aber jetzt bereue ich das natürlich.

»Du hattest recht«, sage ich dann zu Blair und streiche die Tränen beiseite, »unsere Eltern sind der Schlüssel.«

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