Kapitel 15.2 - Zwischen Verpflichtungen und Gefühlen

138 16 1
                                    

Blair

Kalila, Vincent und Morgan stehen am Strassenrand, verborgen hinter dem dunklen Lieferwagen, sodass ich bloss die weissen Rauchkringel der Zigaretten sehe, die sich über ihren Köpfen bilden und das leise Flüstern ihrer Stimmen höre.

Seit ich vor sechs Jahren Teil des Silbermond Rudels geworden bin, hat sich für mich recht schnell innerhalb der Menge an Werwölfen von London eine kleine Gruppe gebildet, zu der ich nun unwiderruflich gehöre und die grösstenteils dafür verantwortlich ist, dass ich mich dem Rudel gegenüber loyal verhalte.

Für ordinäre Menschen die von einem Werwolf gebissen werden ist es keine Option, weiterhin mit ihren normalen Familien und menschlichen Freunden zusammen zu sein, da die Emotionen zu stark schwanken, neue Werwölfe zu kräftig sind und es kaum einen plausiblen Grund gibt, sich einmal im Monat in ein unkontrollierbares Biest zu verwandeln. Die meisten von uns finden sich soweit mit diesem Schicksal ab, dass sie bereit sind ihr bisheriges Leben vollkommen hinter sich lassen und voll und ganz Teil des Rudels werden. Dies ist alles an Familie und Freundschaft, was wir nach unserer ersten Verwandlung noch haben.

Vincent ist seit einem halben Jahr das neuste Mitglied dieser Gruppe, aber ansonsten gab es immer nur uns. Und ich vertraue ihnen mein Leben an.

Aber die Tatsache, dass ich Callisto nicht einfach ausliefern kann, - wegen dieser merkwürdigen und immer intensiver werdenden Gefühle und wegen den Erinnerungslücken, - werden sie mit ziemlicher Sicherheit nicht verstehen. Und für mich erscheint es mit jedem verstrichenen Tag unmöglicher Cali einfach aufzugeben, sie auszuliefern und darauf zu hoffen, dass der Alpha nur diesen verdammten Fluchbinder von ihr haben will.

Sie würden mir Standpauken halten, dass Cali nicht wichtiger als die Familie und das Rudel ist und sie würden es mir ausreden wollen. Und dann würde ich mich gegen sie entscheiden müssen, weil ich keine Wahl habe ... und genau diesen Konflikt möchte ich um jeden Preis verhindern.

Seit ich Cali getroffen habe, habe ich keine Wahl mehr. Sie ist alles, was momentan noch zählt und dieser Tatsache ins Gesicht zu sehen ist härter und komplizierter, als ich erwartet habe. Doch es wird nur unweigerlich klarer, je länger ich meine Freunde, hinter dem Auto versteckt, heimlich beobachte.

Vincent ärgert Kalila, die eine halbe Ewigkeit gebraucht hat, um ihn als Teil unserer kleinen Gruppe zu akzeptieren. Sie ist mehr als skeptisch, stur, verbissen, sehr temperamentvoll und äusserst nachtragend. Aber Kalila hat sich irgendwann mit der Tatsache abgefunden, dass Vincent nun Teil unserer Gruppe ist und die beiden scheinen auf eine merkwürdige Art Freunde geworden zu sein.

Morgan hingegen ist ein ruhiger Typ; er spricht nur, wenn es sein muss und beteiligt sich an unseren gemeinsamen Aktivitäten nur, weil er sicherstellen will, dass wir keinen Mist verzapfen. Mit seinem dunklen Haar, den ebenso dunklen Augen und seiner verschlossenen Art wirkt er unnahbar, - was er ja auch ist - und durchaus einschüchternd. Von uns allen ist er der älteste Werwolf; er wurde mit vierzehn von einem ihm noch immer unbekannten Wolf verwandelt und lebte seit diesem Tag im Silbermond Rudel.

Vincent, der mit seiner schrillen und stets gut gelaunten Art in unserer Runde durchaus auffällt, scheint sich aber vor allem deshalb bei uns wohl zu fühlen. Und ich hingegen fühle mich für sein Wohlbefinden verantwortlich, denn ich war es, der ihn nach seinem Unfall, - die Nacht des verhängnisvollen Bisses - in einer Strassenecke liegend vorgefunden habe. Beinahe wäre es zu spät gewesen und er wäre an den Blutung der Bisswunde gestorben. Ich konnte ihn mit Hilfe der anderen in den Van schleppen und ihn zum Rudel bringen, wo wir ihn wieder zusammen geflickt haben.

Wie ich da hinein passe ist mir an manchen Tag noch immer ein Rätsel; Kalila und ich sind praktisch gleichzeitig Teil des Rudels geworden und haben deshalb die ersten paar Wochen gemeinsam bei den Frischlingen verbracht. Gebissene, menschliche Frauen sind in einem Wolfsrudel noch immer seltener anzutreffen als Männer. Das hat vor allen Dingen damit zu tun, dass Frauen nicht dieselbe körperliche Stärke aufweisen wie wir Männer und sie die erste Verwandlung deshalb nicht immer überleben. Für den menschlichen Körper ist der magische Akt der ersten Verwandlung eine Strapaze, die nicht jeder fähig ist zu überstehen.

Allerdings stellte sich schnell heraus, dass Kalila eine Kämpferin ist und obwohl ich sie einige Male während unserer Ausbildungszeit vor unseren Brüdern verteidigt habe, hat sie mir schnell gezeigt, dass sie meine Hilfe nicht braucht. Und doch hat uns das damals zusammengeschweisst.

»Na endlich«, ruft Vincent, der wie immer, eine halb tot gerauchte Zigarette zwischen den Fingern hält und winkt mich heran, »du kommst spät, Boss.«

»Nenn mich nicht so«, erwidere ich murrend und werfe jedem in der Runde einen Blick zur Begrüssung zu, bevor ich zu sprechen beginne. »Wie sieht es aus?«

»Das sollten wir dich fragen«, beginnt Kalila, die der gesamten Situation gegenüber wenig erfreulich entgegen sieht, »was dauert so lange? Du hast den Stein doch schon längst.«

»Sie hat Recht, Mann«, meint Morgan, von dem ich sehr überrascht bin, dass er auf ihrer Seite steht. Normalerweise lässt er uns unsere Kindereien selbst austragen, ohne sich aktiv daran zu beteiligen, »wieso dauert das so lange?«

»Wieso vertraut ihr mir nicht?«, kontere ich mit einer Gegenfrage.

»Blair«, meint Morgan ruhig, »wir vertrauen dir, Bruder. Natürlich.«

»Allerdings ist es mehr als verdächtig, dass du deine Tage damit verschwendest, dich an dieses Mädchen ranzumachen, anstelle uns den Stein auszuhändigen«, mischt Kalila sich ein und spuckt die Worte geradewegs heraus, »was ist denn so besonders an ihr?«

Darauf antworte ich nicht. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, ihr nicht den Kopf umdrehen zu wollen. So sehr Kalila auch zu meiner jetzigen Familie gehört, aber es gibt noch immer Momente in denen ich sie am liebsten erwürgt hätte. Ihre endlose Skepsis gepaart mit ihrer Aufmüpfigkeit ist teilweise unerträglich, selbst wenn sie damit gar nicht so unrecht hat.

»Was ist los mit dir, Blair?«, mischt sich nun auch Vincent in die Unterhaltung ein.

»Nichts!«, rufe ich entnervt und ungeduldig, schliesse kurz die Augen und versuche mich auf etwas zu konzentrieren, dass nichts mit Callisto zu tun hat, »es ist alles in Ordnung. Vertraut mir einfach, verdammt noch mal. Wir werden den Stein bald bekommen.«

»Wenn du das sagst«, meint Vincent schulterzuckend.

Für Vincent ist das Thema damit gegessen und ich schätze sein, zugegeben unverdientes, Vertrauen in mich, doch die beiden anderen scheinen sich nicht so leicht mit meinen Versprechungen abzuspeisen zu lassen. Ich sehe es ihren Mienen an, selbst wenn sie es zu diesem Zeitpunkt nicht aussprechen.

»Wir haben nicht mehr lange Zeit, Blair, verstehst du das?«, fährt Morgan fort, gerade so, als würde ich nicht wissen, dass es so ist, »der Alpha wird ungeduldig und wir sind nicht die einzigen, die er auf den Stein angesetzt hat.«

Nickend trete ich einige Schritte zurück, um einen gebührenden Abstand zwischen uns zu bringen. Erneut lasse ich meinen Blick über meine drei engsten Freunde schweifen.

»Wir sehen uns bald. Wartet auf meine Nachrichten und haltet die Kleine bei Laune. Es wird bald vorbei sein«, erwidere ich, anstelle ihnen einen weiteren Grund zu nennen, meinem Urteil nicht mehr zu vertrauen.

Mit diesen Worten lasse ich meine Freunde in der Nacht zurück und verlasse die Strassenecke mit geschwinden Schritten. 

SilbermondWhere stories live. Discover now