Kapitel 1 - Ultimative Rache

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Sechs Jahre später

Callisto

Es hat die ganze Nacht geschneit und auf dem Parkplatz der Universität herrscht Chaos. Unter den gegebenen Umständen bin ich froh, dass die Scheiben in meinem Auto bereits beschlagen haben und man mich nicht besonders gut erkennen kann.

Plötzlich reisst der Krach der kurz geöffneten Autotür mich aus meinen Gedanken und ich warte auf das dumpfe Plumpsen, das unweigerlich erfolgt, nachdem meine beste Freundin die Tür hinter sich geschlossen hat. Sie grinst über's ganze Gesicht und einen Moment erwidere ich ihren euphorischen Blick, bevor mich die Konzentration zurückholt und ich erneut nach vorne schaue.

»Alles erledigt«, sagt sie unnötigerweise und ich nicke ihr zu.

»Dieser Typ wird es bitterböse bereuen, dich verarscht zu haben«, fährt sie unbeirrt meines Stillschweigens fort und beobachtet nun ebenso wie ich den Hauptausgang der Universität. »Und er wird es bereuen, mich monatelang kleines Mädchen genannt zu haben.«

Ein schadenfreudiges Kichern bahnt sich den Weg meine Kehle hinauf. Ava wirft mir nur einen bösen Seitenblick zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne richtet.

»Verübeln kann man es ihm nicht, selbst wenn er ein Idiot ist. Deine Körpergrösse gleicht der eines Primarschülers.«

Ava schnaubt träge, auch wenn sie natürlich weiss, dass ich damit Recht habe.

»Ich bitte dich, Anna«, sagt sie mit leicht erhöhter Stimme, »Travis ist ein Arsch. Sei bloss froh, dass du ihn los bist.«

Bei der Erwähnung meines anderen Namens zucke ich unweigerlich zusammen. Eigentlich sollte ich inzwischen daran gewöhnt sein, dass die Menschen in meinem Leben mich Anna nennen, denn es ist der Name, der auf meiner Geburtsurkunde steht. Annaëlle Le Croy, um genau zu sein. Es ist der Name, den mir meine Mutter gab, doch seit jeher verwenden meine Schwester und ich einen anderen; den, mit dem ich eines morgens unwissend aufgewacht bin: Callisto.

Aber ich nehme an es ist leichter einen schwer auszusprechenden und noch schwerer zu merkenden französischen Namen zu verwenden, als die Blicke zu sehen, wenn die Leute begreifen, dass ich nach einem Mond des Jupiters benannt wurde. Um ganz ehrlich zu sein, ist das noch die einfachere Erklärung, als jemanden zu sagen, dass Callisto der Name eines griechischen Fabelwesens ist. Es ist merkwürdig, und ein weiterer Konflikt, dem ich nur zu gerne aus dem Weg gehe.

Meist behalte ich meine Familiengeschichte ohnehin für mich. Ich sorge im vornherein dafür, dass das Gespräch gar nicht erst in die Richtung führt, in der man mich über meine Familie ausfragen könnte, denn es gibt wohl kaum etwas kompliziertes in meinem Leben, als das. Meine kleine Schwester Lyra und ich sind schon alleine, seit ich denken kann. Wir wissen nicht viel über unsere Eltern, nur dass sie nicht mehr da sind. Selbst das Testament unserer Mutter hat uns an meinem achtzehnten Geburtstag nur unsere kleine Dachwohnung in Mitten von London hinterlassen. Und natürlich das Geld. Eine Menge Geld. Ansonsten wäre es auch nicht möglich, Lyra's Kunsthochschule und mein Medizinstudium zu finanzieren, ohne dass eine von uns beiden arbeiten geht.

»Erde an Anna«, sagt Ava in diesem Moment in lauter Tonstärke und wedelt einige Male mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum, bis ich mich ihr eindeutig zu wende, »ich rede mit dir.«

»Sorry«, murmle ich und schüttle den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen.

Gerade in diesem Moment höre ich angeregte Rufe und Gelächter und mein Blick zuckt zum Eingang der Universität, aus dem ein nackter, gut aussehender Mann gerannt kommt, der mit aller Macht versucht, sein bestes Stück zu verbergen. Spätestens auf dem vollgestopften Parkplatz läuft sein gesamter Oberkörper so rot an, dass man ihn glatt im Strassenverkehr als Ampel hätte benutzen können.

SilbermondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt