Kapitel 11.2 - Der allglatte Anwalt und sein Büro

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Callisto 

Wir warten seit fast zwanzig Minuten in einem schicken, klinisch eingerichteten Vorzimmer. Die dunkelblau gepolsterten Stühle sind trotz allem unbequem und so rutsche ich immer wieder von einer Seite zur anderen. Ich schlage die Beine übereinander und wippe nervös mit dem Fuss, wofür ich augenblicklich einen scharfen Blick von Blair bekomme.

»Cali, hör auf damit«, schnauzt er, und das ist mit Abstand das erste Mal, dass ich ihn nicht grenzenlos ruhig erlebe. Fast bringt mich das dazu, breit zu grinsen, »du machst mich noch wahnsinnig.«

Ich zucke bloss mit den Schultern und tue so, als ob ich nicht wüsste, wovon er spricht. Unter anderen Umständen hätte ich mich nun wohl gerne auf eine neckische Diskussion mit ihm eingelassen, aber die Situation ist auch für mich zerreissend. Also schweige ich eisern und schaue immer wieder zu der tickenden Wanduhr herüber, die uns gegenüber an der Wand angebracht ist.

Nachdem ich die besorgniserregenden Tagebucheinträge meiner Schwester gefunden habe, hat mich das schliesslich überzeugt, nach dem absolut letzten Strohhalm zu greifen. Also habe ich den Anwalt angerufen, der mir vor knapp sechs Jahren das Testament unserer vermeintlichen Mutter überreichte und mir alles genau erklärte. Die Hinterlassenschaften unserer Mutter hielten sich ja ohnehin in Grenzen, doch ich erinnere mich daran, dass er etwas von einem Schliessfach erzählte, dessen Zugriff mir auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin gewährt ist. Damals hatte ich daran kein Interesse, eine Tatsache, die vielleicht daher rührte, dass ich insgeheim immer wütend auf meine Eltern gewesen bin. Wütend, weil sie uns alleine liessen, ohne Erinnerungen und ohne Anhaltspunkt. Es ist schwer genug, ohne Familie leben zu müssen, doch keinerlei Erinnerungen an irgendetwas zu haben, hat uns beide in den Wahnsinn getrieben. Abgesehen davon, dass Lyra und ich ganz offensichtlich keine normalen Menschen sind, natürlich.

Heute liegen die Dinge allerdings anders und ich darf nichts unversucht lassen, um meiner Schwester zu helfen, auch wenn dieses Vorgehen einen harten Klumpen in meinem Bauch verursacht und es während jedes weiteren Moments in dieser Anwaltskanzlei schlimmer wird.

»Blair«, sage ich dann und wende mich ihm zu. Die Frage, die ich an ihn habe, beschäftigt mich nun bereits seit wir gestern Nacht von unserem Besuch bei der Hexe zurück gekehrt sind, »der Grund wieso unser Leben vor mehr als sechs Jahren nicht mehr in unseren Köpfen ist, dass wir uns so gar nicht erinnern, an nichts ... das hat etwas mit den Hexen zu tun, nicht wahr? Eine Hexe hat unsere Erinnerungen gelöscht, stimmt's?«

Blair wendet den Blick ab und scheint intensiv über meine Frage nachzudenken, dann verhaken sich unsere Augen erneut ineinander. Darin erkenne ich ein kurzes, kaum merkliches animalisches Funkeln.

»Ja, ich denke, so ist es.«

»Und die Chance, dass das etwas mit unseren Eltern zu tun hat, steht ziemlich gut, nicht wahr?«

Er zuckt mit den Achseln.

»Um ehrlich zu sein, kann ich mir nicht vorstellen, wieso ihr sonst keine Ahnung habt, wer eure Eltern sind. Oder wer ihr seid.«

Gerade möchte ich etwas darauf erwidern, als die Tür zu einem der unzähligen Büros aufgeht und ein schlanker, mittelalter Mann in den Warteraum tritt. Er trägt einen teuer aussehenden Anzug, der perfekt sitzt, auf Hochglanz polierte Schuhe und auch seine Frisur tut dem perfekten Äusseren keinen Abhang. Es ist schwer zu erkennen, wie alt dieser Herr wirklich ist, und das ist irritierender als ich in Worte fassen kann. Aber das freundliche, geschäftige Lächeln auf seinem Gesicht und seine offene Körperhaltung helfen mir, nicht augenblicklich abwehrend zu reagieren. Inzwischen sehe ich in allem und jedem eine Gefahr.

»Miss Le Croy«, sagt er dann, »bitte treten Sie ein. Ich habe nun Zeit für Sie.«

Er hebt seine Hand zu einer einladenden Geste in sein Büro und ich folge seiner Aufforderung, indem ich sprungartig aufstehe. Die angestaute Ungeduld hat sich in meinen Gliedmassen bis in meine Knochen abgesetzt und mein neuer, starker Körper mag solche Situationen gar nicht.

SilbermondWhere stories live. Discover now