Kapitel 5 - Mitternachtsschmerz

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Callisto

Der Mond ist fast vollständig aufgefangen, als wir über die grünen Flächen des Parks laufen. Bittere Erinnerungen an Schmerz und Kontrollverlust kommen mir hoch, aber auch das Gefühl von vollkommener Freiheit, als ob ich aus zwei verschiedenen Identitäten bestehen würde. Der Gedanke ist angsteinflössend, aber zugleich fühlt es sich an, als wäre dies der Anfang etwas vollkommen Neuem.

Ein weiteres Mal schaue ich gen Himmel empor, wo die Sterne klar und hell zu uns hinab funkeln. Keine einzige Wolke ist auszumachen und es ist so still hier draussen, dass man sogar das Zirpen der Insekten hört. Blair hat kein Wort gesagt, seit wir meine Wohnung verlassen haben und ich bin noch unsicher, ob ich ihm seine beherrschte Ruhe wirklich glauben soll oder ob dies nur eine gut eingeübte Fassade hinter einer Blase voller Chaos und wilden Emotionen ist.

Es ist schwer, ihn einzuschätzen. Vielleicht auch, weil er sich so stark von allen unterscheidet, die ich bisher in meinem halben Leben kennenlernte. Ich bin es nicht gewohnt von so viel Ruhe und Gelassenheit, von Stärke und Selbstsicherheit, umgeben zu sein, zumal Lyra und ich ganz andere Persönlichkeiten vorweisen. Blair hingegen wirkt, als könnte ihn nichts und niemand auf dieser Erde aus der Ruhe bringen, als ob er jedes Quäntchen seiner selbst kennt und sicher ist.

Und irgendwie mag ich das an ihm, merke ich dann erstaunt. Irritiert über diese Erkenntnis versuche ich nachzuvollziehen, wie man jemanden mögen kann, den man nicht kennt.

Blair unterbricht meine Grübeleien, indem er einen Moment stehenbleibt, dann huscht er beiseite und versteckt er sich geschwind hinter einem dicken Baumstamm. Als ich es ihm nicht sofort gleich tue, weil ich nicht erkennen kann, wovor wir uns überhaupt verstecken, schnappt er sich schnell einen Zipfel meiner Stoffjacke und reisst mich praktisch an sich. Ich pralle gegen seine Brust, die sich unter der schnellen Berührung meiner verwirrten Finger hart und definiert anfühlt und möchte lauthals protestieren. Doch sofort spüre ich seine warme Hand auf meinem Mund, schaue zu ihm hoch und sehe, wie er sich den Zeigefinger auf die Lippen legt um mir zu verstehen zu geben, dass ich still sein soll. Ich folge einer seiner Hände, als er damit hinter sich zeigt. Ein quälend langsamer Moment vergeht, indem nichts geschieht, aber dann höre ich helles Gelächter und laute Rufe.

Ein junges Pärchen geht an uns vorbei, ohne unsere an den Baumstamm gedrückten Körper zu bemerken. Sie jagen sich spielerisch über den Kieselweg; das Mädchen schreit, der Junge lacht und dann sind die beiden auch schon hinter der nächsten Abbiegung des Kieswegs verschwunden. Fast schon wehmütig schaue ich den beiden nach und wünschte, meine Probleme wären so unschuldig und leicht wie es bei ihnen den Anschein macht.

Blair räuspert sich lautstark, sodass ich heisses Vibrieren unter meinen Händen spüre, die noch immer auf seiner Brust liegen. Schnell trete ich einen Schritt zurück, gebe seinen Körper frei und folge seinen geschwinden Schritten, die uns tiefer in den Park hinein führen.

»Es ist bald so weit«, raunt Blair, direkt neben mir, als er plötzlich stehen bleibt und unwillkürlich in die Hocke geht.

Ich höre seinen schnellen Atem, spüre die Hitze auf meiner Haut, die sein Körper absondert und weiss aus einem plötzlichen, angsteinflössenden Instinkt heraus, dass ich ihm gleich dabei zusehen darf, wie er sich in einen Werwolf verwandelt.

Blair erhebt sich erneut, doch er ist schon nicht mehr in der Lage seinem Körper seine volle Grösse zu geben, da er bereits am ganzen Leibe zittert und von sich ankündigenden Schmerzwellen beherrscht wird. Mit geschwinden Fingern öffnet er den Reisverschluss seines Sweatshirts, schält sich daraus und dreht sich dann zu mir um. Mit einem kleinen, schelmischen Lächeln auf den Lippen und einem aufgeregten Funkeln in den Augen sieht er mich an.

SilbermondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt