Kapitel 22 - Der Verräter

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Callisto

Lyra ist gerade eingeschlafen als eine Tür aufgeht, die ich von meiner jetzigen Position aus nicht erkennen kann. Die Dämmerung ist bereits eingetroffen und ich habe mich auf meiner Pritsche zusammengekauert. Licht fällt in meine barbarische Zelle und eine Person tritt in den Vorraum, der zum eigentlichen Zimmer dazu gehört, aber nicht von den Gitterstäben eingenommen ist. An der Wand steht eine kleine hölzerne Bank, als wäre es üblich, dass eingekerkerte Werwölfe Besuch erhalten.

Mein Körper und mein Verstand sind bis aufs Äusserste strapaziert und ich bezweifle, dass ich es ertrage in dieser Situation noch weiter gereizt zu werden. Das Wolfsgen hat ganze Arbeit geleistet und ist nun wieder an der Macht und da heute Vollmondnacht ist, scheint mein Körper sich auf eine bevorstehende Verwandlung vorzubereiten.

Ich habe den gesamten letzten Monat tagtäglich damit verbracht dem Wolfsgen nicht nachzugeben, selbst wenn meine Emotionen in gewissen Situation vollkommen verrückt spielten. Es fällt mir schwer, diesen Teil von mir zu akzeptieren. Nicht, weil ich mich schäme, eher weil ich weiss, dass ich noch keine wirkliche Kontrolle über den wilden Wolf in mir habe. Und das macht mir Angst.

Wenn ich in eine Lage gerate, in der die Wut übernimmt und ich mich unwillkürlich verwandle, zweifle ich kein bisschen daran, dass ich fähig bin, jemanden mit meiner geballten Kraft als Wolf zu töten. Und ich weiss nicht, ob ich damit leben könnte. Diese Kraft und diese Aggression, die ständig in mir schlummert und wächst, ist einschüchternd. Und auch wenn ich letzte Nacht eine besonders gute Erfahrung mit dem Wolf in mir gemacht habe, so weiss ich doch, dass noch immer ein langer Weg vor mir liegt.

Lyra bewegt sich neben mir; augenblicklich ist sie wach und schreckt aus ihrer unbequemen Schlafposition auf. Wir wechseln einen besorgten Blick miteinander, richten dann aber unsere Aufmerksamkeit dem Besucher zu, der gerade in den Raum kommt.

Es ist Blair. Und hinter ihm kommt eine zierliche, hübsche Frau mit honigblondem Haar und einer bösen Miene auf dem Gesicht herein. Sie funkelt mich wütend an. Ich habe keine Zweifel, dass es sich bei der Person um diese Kalila handelt.

Aber Blair ..., denke ich verwirrt.

Ich kneife verwirrt die Augenbrauen zusammen. Zuerst geht mein Verstand all die möglichen Erklärungen durch, die ihn neben Kalila, - so lässig und entspannt, wie er ist - , in diese Lage gebracht haben könnte. Aber dann fällt mein Blick auf Kalila und die beiden anderen meiner Entführer, die ebenfalls in die Zelle geschlendert kommen und mir entgeht natürlich nicht, wie vertraut alle vier miteinander sind. Es dauert nicht sehr lange, bis mein Hirn die Puzzle Stücke an den richtigen Platz geschoben hat.

»Du?!«, schreie ich und renne augenblicklich wie von der Biene gestochen auf die Gitterstäbe zu, die mich von dem Verräter trennen.

Meine Fingernägel krallen sich in das Metall bis meine Fingerkuppen schmerzen und fast unwillkürlich fletsche ich meine Zähne und knurre ihn an. Ein beeindruckendes, kehliges Geräusch erklingt, das nicht einmal ich selbst erwartet habe.

Blair, der seine Freunde mit einer eindeutigen Handbewegung zurückhält, kommt auf mich zu und stellt sich mir direkt gegenüber vor die Gitterstäbe.

An seinem Gesichtsausdruck kann ich ausmachen, dass er sich in diesem Moment an einen möglichst weit entfernten Ort wünscht, weit weg von mir und dieser Auseinandersetzung. Sein makelloses Gesicht verzieht sich zu einer fast schmerzerfüllten Grimasse und er umklammert mit seinen Händen ebenfalls die Gitterstäbe, als könnte er mir damit näher kommen. Sein Gesicht und sein Körper sagen etwas anderes.

Trotz all den gegensätzlichen, scheinbar noblen Gefühlen, die sich auf seinem Gesicht abspielen, bin ich hier eingesperrt und er ist frei.

SilbermondWhere stories live. Discover now