Kapitel 26 - Die Flucht

103 13 2
                                    

Callisto

Der Wagen wird langsamer und rollt gemächlich über den kleinen Parkplatz vor unserer Wohnung. Es ist noch immer dunkel und die Strassen sind in diesem Stadtteil relativ verlassen, sodass unsere merkwürdige Gruppenzusammenstellung niemandem auffällt.

Die Wachmänner des Alphas behalten Blair und mich nicht nur ständig im Auge, sie haben uns gleichermassen an den Oberarmen gepackt und eskortieren uns förmlich zu meiner Wohnung.

Um ehrlich zu sein, war ich mehr als überrascht, als klar war, dass der Alpha uns nicht begleitet. Allerdings habe ich von Blair erfahren, dass dieser so ziemlich alles von seinen Handlangern erledigen lässt, um selbst keinen Finger krumm tun zu müssen. Aber fast noch überraschter war ich von der Tatsache, dass wir alle gemeinsam zur Wohnung gebracht werden: Selbst Vincent ist mit von der Partie. Ich frage mich, ob der Alpha davon ausgeht, dass es einfacher ist uns zu kontrollieren, wenn wir alle mit Argusaugen bewacht werden.

Lyra und ich betreten unsere verlassene Wohnung als erstes, die kalt und dunkel und unbewohnt daliegt. Es fühlt sich merkwürdig an, in diesen vier Wänden zu stehen, nachdem wir beide so viel erlebt haben seit unserem letzten gemeinsamen Abend hier. Unser gesamtes Leben hat sich um dreihundertsechzig Grad gedreht und mit einer angsteinflössenden Sicherheit weiss ich, dass es sich nun nicht mehr zurückdrehen lässt, ganz gleich was ich alles in meiner Macht stehende versuche.

Mir bleibt nicht viel Zeit der schmerzhaften Melancholie freien Lauf zu lassen, die sich in meiner Brust ausbreitet, stattdessen werde ich von einem groben Wachmann ins Innere der Wohnung gestossen.

Er ist buchstäblich doppelt so gross wie ich, extrem muskulös und mit seiner ernsten, starren Miene angsteinflössender, als ich zuzugeben bereit bin. Beinahe stolpere ich über meine eigenen Füsse, da ich wegen der groben Tätigkeit des Wachmannes für einen Moment den Halt verliere. Schnell fange ich mich jedoch und schaue kein weiteres Mal zurück, als ich nun schneller gehe. Meine kalten Finger finden den Lichtschalter und drücken den Knopf, sodass die Lichter der Deckenbeleuchtung im Wohnzimmer angehen.

Der Ort sieht noch immer so aus, wie ich ihn zurückgelassen habe, allerdings treffen wir auf dem Boden ein verhaltenes Chaos aus Scherben, Büchern und anderem Kram an, das ich bei meinem erfolglosen Versuch Freya abzuwehren produziert habe. Meine Augen wandern über das Durcheinander und für den Bruchteil einer Sekunde spüre ich die Hilflosigkeit und die Wut, die ich damals empfunden habe.

Mir wird nur sehr langsam und schleppend klar, dass ich heute und zu genau diesem Zeitpunkt ähnliche Dinge empfinde, selbst wenn ich nun nicht von einem magischen Pulver paralysiert werde. Die Situation jetzt fühlt sich ähnlich aussichtslos und endgültig an.

Frustriert wende ich den Blick ab und steige über den Haufen Scherben und gehe direkt in mein Zimmer. Die Tür zu meinem privaten Reich steht ein Spaltbreit offen und ich trete ohne zu zögern ein. Es riecht abgestanden und fast ein wenig modrig, das Zimmer liegt allerdings dunkel und unberührt da.

Ich mache mir die Mühe nicht das Licht einzuschalten, sondern gehe direkt auf die Kommode neben meinem Bett zu, in der ich den Stein die letzten Wochen aufbewahrt habe. Von diesem Versteck habe ich noch nicht einmal Lyra erzählt, doch darin sammeln sich seit ich denken kann einige meiner grössten Schätze, die ich vor den Blicken anderer bewahren will.

Meine Finger greifen zögernd nach dem abgerundeten Knauf und ziehen ebenso zögerlich daran, bis die Schublade geräuschlos aufgleitet. Der Inhalt ist nicht weiter interessant, also schiebe ich die wenigen Gegenstände darin vorsichtig beiseite und drücke auf den Boden der Schublade, der aus einer dünnen, weiss bemalten Holzplatte besteht. Der Boden lässt sich problemlos nach unten drücken und gibt sofort unter meiner Kraft nach, sodass die geheime Luke sichtbar wird, die sich unter dem ersten Boden verbirgt. Das Versteck ist simpel, aber wirklich sehr effektiv.

SilbermondWhere stories live. Discover now