Kapitel 13.2 - Sind unsere Erinnerungen für immer verloren?

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Blair

Als ich aufwache, durchflutet bereits trübes Tageslicht die kleine Wohnung und ich schaue mich benommen um. Mein gesamter Körper schmerzt, als ich aufstehe und ich versuche meine Gliedmassen zu koordinieren. Meine steife Körperhaltung auf dem Sofa war wirklich zum Schlafen ungeeignet. Als ich letzte Nacht still und heimlich zurückkehrte, schlief sie noch immer auf dem Sofa und ich legte mich schnell neben sie. Jetzt allerdings ist sie nicht mehr da.

»Du bist wach«, kommt Cali's sanfte Stimme plötzlich aus dem Nirgendwo, und ich sehe freudig überrascht auf.

Sie hat sich umgezogen und ihre Haare zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden. Sie wirkt erheitert, wenngleich nicht besonders gut gelaunt.

Nickend gehe ich ein paar Schritte in ihre Richtung.

»Macht es dir etwas aus, wenn ich die Dusche benutze?«

»Sag nicht, das hast du bislang unterlassen?«, will sie in spielerischem Tonfall wissen und rümpft wenige Augenblicke später ihre Nase, als hätte sie etwas schlechtes gerochen.

»Nein, allerdings hast du meistens geschlafen, wenn ich mich ins Badezimmer geschlichen habe«, gebe ich halb im Scherz zurück und bekomme einen leicht amüsierten Blick von ihr.

Doch sie nickt und ich stehe wenige Augenblicke darauf unter dem heissen Wasserstrahl.

Das Wasser schafft es fast vollkommen, die Verspannung in meinen Muskeln aufzulösen, sodass ich mich sehr viel besser fühle, als ich den Duschvorhang zurückschiebe. Schnell trockne ich mich ab und schlüpfe in frische Klamotten, die ich inzwischen von meinem Auto in ihre Wohnung gebracht habe, als würde ich hier wohnen. Ehrlich gesagt ist die ganze Situation schon etwas seltsam, denn die Normalität zwischen Cali und mir hat sich so schnell und mühelos eingestellt, als wären wir weitaus mehr als flüchtige Bekannte. Wir kennen uns erst seit ein paar Tagen und doch fühlt es sich ganz anders an. Wie kann das bloss sein?, frage ich mich grübelnd, aber dann versuche diesen Gedanken und die damit verbundenen Merkwürdigkeiten zu verdrängen und nicht weiter darüber nachzudenken. Stattdessen verlasse ich das Badezimmer und gehe in die Küche.

Callisto hat inzwischen frischen Kaffee aufgesetzt und sitzt mit ihrer ersten Tasse in der bequemen Essnische. Ihre Beine hat sie an ihren Körper gezogen und stellt die dampfende Tasse zwischenzeitlich auf ihren Knien ab, während sie mich beobachtet. Ich fühle ihren intensiven Blick mit jeder Faser meines Körpers, als würde er sich in meine Haut brennen und bin noch immer nicht sicher, ob mir das gefällt oder es mich eher noch nervöser macht.

»Darf ich dich etwas fragen, Blair?«, sagt sie schliesslich, als ich mich ihr gegenüber an den Tisch gesetzt habe und den Duft des heissen Kaffees in mich aufsauge.

Ich hebe abwartend eine Augenbraue, während ich Zucker in die schwarze Brühe schütte.

»Erinnerst du dich inzwischen an gewisse Dinge, die vor mehr als sechs Jahren passiert sind?«

»Nein«, sage ich schnell, ignoriere den Stich in meiner Brust allerdings, als ich an die Erinnerungsfetzen von letzter Nacht zurückdenke, »du etwa?«

»Ich ... bin mir nicht sicher«, meint sie schliesslich zögerlich und schulterzuckend und gibt sich dabei grosse Mühe, meinem stechenden Blick auszuweichen, »ich träume oft. Manchmal sind die Bilder ganz klar und ich denke, das dies eine Erinnerung sein muss, aber dann wache ich auf und vergesse das meiste davon wieder.«

Unsicher was ich darauf erwidern soll, drehe ich den Löffel in meiner Tasse ein paar Mal öfter als nötig gewesen wäre, bevor ich mich dazu durchringen kann, sie anzusehen und zu antworten.

»Ja, ich weiss was du meinst.«

»Denkst du, unsere Erinnerungen sind für immer verloren?«, fragt sie weiter.

»Die Zauber der Hexen sind unberechenbar«, erwidere ich sachlich, »aber wenn ich eines weiss, dann, dass es davon abhängt, ob die Hexe die den Zauber gewirkt hat auch bereit ist diesen wieder aufzuheben.«

»Wir bekommen die Erinnerungen erst zurück, wenn diese Hexe einverstanden ist?«, will sie ungläubig wissen.

»Nicht nur das: Die Hexe muss ihren Zauber rückgängig machen«, erwidere ich schulterzuckend, denn mir ist seit einiger Zeit bewusst, dass das sehr unwahrscheinlich ist, »der Prozess ist langwierig und sehr aufwendig.«

»Meine Mutter hat meiner Schwester und mir die Erinnerungen genommen«, sagt Cali und zuckt ebenfalls mit ihren Achseln, als hätte sie sich mit dieser Tatsache bereits unweigerlich abgefunden, »denkst du, sie hat auch deine genommen?«

»Ich weiss es nicht«, gebe ich ehrlich zu, auch wenn ich weiss, dass wir beide bereits mit dem Gedanken gespielt haben, »denkst du das denn?«

»Es wäre vermutlich die logischste und einfachste Schlussfolgerung, nicht wahr?«, meint Callisto und sieht von ihrem Kaffeebecher auf.

In ihren klugen Augen liegt plötzlich eine derart deutliche Verletzlichkeit, dass ich das Gefühl habe, daran zu ersticken. In mir kommt der starke Wunsch auf, sie vor allem Unheil zu schützen, welchem sie seit unserer Begegnung unweigerlich ausgesetzt ist und ich frage mich das erste Mal, ob das meine Schuld ist. Vielleicht liegt es aber auch an ihrer Unwissenheit und das wiederum kann nicht meine Schuld sein, selbst wenn ich derjenige war, der ihr einige Dinge erzählte.

»Vermutlich«, stimme ich zu, da ich nicht mehr dazu sagen kann.

Wie tausende Male zuvor lasse ich meinen Geist in die tiefsten Tiefen meines Unterbewusstseins vordringen und suche nach den Erinnerungen, die ich verloren habe. Aber wie jedes Mal stosse ich nur auf Dunkelheit. Auf eine Nebelumwogende Dunkelheit, die sich ekelhaft und widerlich unendlich anfühlt. Und unergründlich, und so als ob ich dagegen nicht ankommen kann.

Aber seit dem aller ersten Kontakt mit Callisto spüre und weiss ich inzwischen genau, dass unsere Vergangenheit unweigerlich zusammenhängt und das es mehr als Wahrscheinlich ist, dass Claire Le Croy diejenige war, die auch meine Erinnerungen genommen hat.

Und ich weiss, dass Callisto die Antwort auf alles ist.

SilbermondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt