Kapitel 9 - Die Hexenbude

411 39 3
                                    

Callisto

Das Auto hält abrupt an und ich erwache aus einem unruhigen, traumlosen Schlaf, der mir ein mulmiges Gefühl bereitet. In letzter Zeit habe ich solche undefinierbaren Träume und Gefühle sehr oft und ich kann kaum beschreiben, geschweige denn benennen, woran das liegt.

Manchmal frage ich mich, ob es daher kommt, dass mein Körper und mein Bewusstsein sich an ein Leben erinnern, das ich zwar vergessen habe, aber das sich nun seinen Platz zurück an die Oberfläche erkämpft. Mein gesamter Körper, meine Hände, selbst meine Fingerspitzen scheinen sich an etwas zu erinnern, das mein Verstand vergessen hat.

Blair hat den Wagen auf einem kleinen Parkplatz abgestellt, der von der Strasse aus nicht sichtbar ist. Ich hebe den Kopf von der Scheibe und atme tief durch, bevor ich ihn fragend ansehe.

»Wo sind wir?«

»Eigentlich wollte ich dich Nachhause bringen, aber ich habe meine Meinung geändert«, erklärt er mir schulterzuckend, klingt dabei aber nicht besonders überzeugend, »das ist der Laden einer alten Bekannten von mir.«

Blair zeigt auf ein kleines, fast heruntergekommenes Backsteinhaus. Es sieht so aus, als wäre es sehr alt und als ob niemand darin wohnen würde. Doch es brennt ein Licht in der unteren Etage, die offenbar als Verkaufsraum genutzt wird. Weisse Vorhänge hängen an den Fensterrahmen und unterbinden von unserem Standpunkt einen genaueren Einblick ins dubiose Innere. Doch ich erkenne dunkle Schatten, die von der Decke hängen und bei denen es sich vermutlich um getrocknete Blumen- und Kräuterbündel handelt.

»Eine Bekannte, sagst du«, wiederhole ich ruhig seine auserwählten Worte und hebe sekptisch eine Augenbraue.

Bislang sind die Besuche seiner Bekanntschaften eher wenig vielversprechend verlaufen.

Blair's Profil sieht hinreissend aus, als ich zu ihm herüber blicke. Seine Kieferpartie ist deutlich angespannt, was ihm einen harten, verwegenen, fast gefährlichen Ausdruck verleiht. Er hält seinen Blick starr auf das Haus gerichtet und scheint seinen Gedanken nachzuhängen, die nicht besonders erfreulich zu sein scheinen.

»Eine Hexe«, präzisiert er die Sachlage und wirft mir ein verschmitztes Lächeln zu. »Na dann, wollen wir mal.«

Ohne auf mich zu warten, überquert er den kleinen Parkplatz und tritt auf das Haus zu. Rasch folge ich ihm gedankenlos.

Mein Vertrauen für Blair reicht tief und noch immer versuche ich herauszufinden, woran das liegt. Wir kennen uns nicht. Überhaupt nicht. Und doch bin ich bereit, ihm in eine gewissenlose, gefährliche Situation zu folgen, die ich nicht kontrollieren kann. Er im Gegenzug hilft mir meine Schwester zu befreien, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen und das wiederum bringt mich zu der Vermutung, dass auch er mir vertraut.

Aber vielleicht ist es genau dieses etwas, an das sich mein Körper erinnert; an wen sich mein Körper erinnert. All die willkürlichen Impulse des Erinnern, die zu intensiv sind, als das meine Sinne oder gar mein Verstand sie richtig interpretieren können, kommen von ihm. Alles dreht sich um ihn und um sein Wesen, das mein tiefstes Inneres ins Wanken bringt und etwas in mir wachrüttelt, dass ich noch nicht einmal selbst verstehe.

Es ist merkwürdig. Wie so manches in meinem Leben, aber in den letzten Tagen sind so viele merkwürdige Dinge passiert, dass ich mir vorgenommen habe, mich auf mein Bauchgefühl zu verlassen. Denn da ich ja offenbar keinerlei nützliche Erinnerungen habe, ist mein Bauchgefühl alles, was mir noch bleibt. Und wenn ich Blair vor mir so ansehe, - seinen starken, breiten Rücken, seine Zuversicht, seine Ruhe und seine Bereitschaft, mit mir gemeinsam allen möglichen Gefahren ins Auge zu sehen -, sagt mir mein Gefühl vor allem eines: Ich kann ihm vertrauen.

SilbermondWhere stories live. Discover now