Kapitel 12 - Der Brief aus der Vergangenheit

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Callisto

Abermals verschränken sich unsere Hände ineinander und ich warte auf das gewohnte Kribbeln in meiner Magengrube, warte auf das wilde Feuer, das über meine Haut wandert, sobald er mich berührt. Inzwischen ist es schon fast normal geworden, dass wir uns an den Händen halten, wenn einer von uns unsicher ist, Angst oder Wut empfindet. Und auch wenn mich seine Berührungen aus ganz anderen Gründen vollkommen durcheinander bringen, so hilft es in gewissen Situationen nicht die Beherrschung zu verlieren.

Blair zieht mich durch die grosse Halle, die bis zum Zerplatzen voller Menschen ist und wir schlängeln uns gekonnt leichtfüssig durch die Menge. Er steuert die Schliessfächer auf unserer Rechten an und ich bin froh, dass ich keine Energie darauf verschwenden muss, den richtigen Weg zu finden und all diesen normalen Menschen auszuweichen. Es ist bereits anstrengend genug, mich darauf zu konzentrieren, meine verschärften Sinne nicht verrückt spielen zu lassen. Ich nehme alles wahr; jedes Geräusch, jeder Geruch, einfach alles und mein Hirn droht fast zu platzen vor lauter unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen.

»Bald geschafft«, raunt Blair mir zu und wendet sich im Gehen einen Moment zu mir um.

Sofort steigt sein unwiderstehlicher Duft in meine Nase und seine Hitze und alles was ihn umgibt wird mir einmal mehr bewusst. Ein fast schmerzhaftes Kribbeln fährt über meine Haut, einmal meinen gesamten Körper hinab und wieder hinauf und meine Haut beginnt zu jucken, als der Wolf in mir sich bemerkbar macht. Schnell beisse ich meine Zähne fest aufeinander, bis mein Kiefer schmerzt und halte die Luft an.

Wir machen Halt, als Blair offenbar das richtige Schliessfach gefunden hat und er tritt einen Schritt zurück, damit ich an ihm vorbei gehen kann. Nur eine Handbreit vor ihm bleibe ich stehen und hole den Schlüssel aus meiner hinteren Hosentasche. Wir sehen uns an und er lächelt mir aufmunternd zu.

Die scharfen Kanten des kleinen Schlüssels schneiden in meine Handfläche, als ich ihn darin festhalte und tief einatmend zudrücke. Dann nehme ich den Schlüssel in die andere Hand und wende mich den Schliessfächern zu, die mit ihrer strukturierten Ordnung eine ungewohnte Ruhe in meinen aufgewühlten Verstand bringen. Langsam und tief durchatmend beuge ich mich leicht, um den Schlüssel in das Schloss des Schliessfaches zu schieben, welches in der unteren Reihe seinen Platz findet. Der Schlüssel passt, und auch wenn ich nichts anderes erwartet habe, bin ich auf eine merkwürdig Weise bekümmert, die ich selbst nicht so genau verstehen kann.

Vielleicht war ich noch nicht wirklich bereit, um endlich herauszufinden, was sich darin befindet. Aber grundsätzlich spielt das keine Rolle, denn jetzt ist nur wichtig, was mit Lyra geschieht. Also ziehe ich die Schranktür des Faches mit einem kraftvollen Ruck auf und ein ernüchterndes Gefühl der Enttäuschung macht sich in mir breit, als meine Augen die magere Ausbeute erfassen.

Schnell greife ich nach der kleinen Box, die darin liegt, und die kaum grösser als meine geliebte Teebüchse ist, die Zuhause auf einem Regal in der Küche steht und die ich einst von Lyra als Weihnachtsgeschenk bekommen habe.

Schnell stopfe ich die hölzerne Box in die Stofftasche, die ich mitgebracht habe und schlage das Schließfach heftiger als beabsichtig zu. Auch wenn es nun nicht mehr notwendig ist, schliesse ich das Fach ab und wir verlassen gemeinsam den Busbahnhof.

»Lass uns Nachhause gehen, bevor wir dieses Ding öffnen«, sage ich zu Blair, der mich mit mehr als einem neugierigen Blick bedachte, als wir zurück in seinem Auto sind.

Nickend und schweigend dreht er den Schlüssel im Zündschloss und ich warte auf das beruhigende Surren des Motors, bevor ich mich zurücklehne. Die Box, die noch immer in der Stofftüte steckt, drücke ich beschützend gegen meinen Magen und lasse den Blick über die Aussenwelt von London schweifen.

SilbermondOù les histoires vivent. Découvrez maintenant