Kapitel 4 - Ich frage mich, ob es solche Zufälle überhaupt gibt

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Blair

Verstohlen lasse ich immer wieder meinen Blick über ihr Profil wandern und beobachte sie, während sie nacheinander die frisch gespülten Teller in die Hand nimmt und sie routiniert mit einem weissen Tuch abtrocknet. Nachdem ich das Essen gekocht habe, hat sie lautstark darauf bestanden den Abwasch zu machen, auch wenn ich ihr meine Dienste angeboten habe. Die Bewegung scheint ihr gut zu tun.

Auf den Fotos, die ich von ihr erhaltet habe, sieht sie ganz anders aus. Die Abbildungen zeigen eine reservierte, kalte Person, die etwas unmenschliches an sich hat, etwas animalisches, etwas wildes, ungezähmtes aber besonderes, fast magisch, das kaum in Worte zu fassen ist. Mein Blick wandert stetig zu ihr zurück als wäre sie ein starker Magnet, dessen Kraft unmittelbaren Einfluss auf mich hat und deren ich mich nicht entziehen kann.

Trotz ihres fast schon irritierenden, aber wunderschönen Äusseren ist Callisto ganz anders, als ich erwartet habe. Die Fotos zeigen eine unnahbare Person, aber in Wirklichkeit ist sie das komplette Gegenteil: Von ihrer Persönlichkeit geht so viel wilde Emotion aus, dass es mich gleichzeitig erschreckt, wie fasziniert. Und andauernd erwische ich mich selbst dabei, wie meine Gedanken zu diesem Moment zurückwandern, als ich die wunderschönen, weiblichen Rundungen ihres Körper unter dem Wolfsgen erbeben sah, ihre Knochen brechen hörte und ihr Gesicht vor Schmerz verzog, und ich höre abermals das atemberaubende Geschrei ihres Schmerzes.

Es war nicht das erste Mal, dass ich jemandem bei seiner ersten Verwandlung zugesehen habe, doch das erste Mal bei jemanden wie ihr. Alles an ihr wirkt anders, besonders. Ihr silberweisses Haar fliesst in sanften, glänzenden Wellen über ihren Rücken, und auch wenn dieses äussere Merkmal sie eindeutig von der normalen Menge der Menschen abhebt, so steht es ihr ausgezeichnet. Die wilden Verrücktheiten, die sie sich ausdenkt und laut ausspricht und die sie ein wenig merkwürdig machen, der ständige Ausdruck von Trotz auf ihrem Gesicht, der ihr überhaupt nicht bewusst ist, ihre sanften, aber auffallend hübschen Gesichtszüge, und dann diese Augen. Augen so blau, blau wie Eiswasser. Wunderschön und einzigartig.

Es ist schwer zu beschreiben, aber wenn ich sie ansehe, überkommt mich ein wehmütiges Gefühl der Melancholie, gerade so, als würde ihr Anblick mich an eine Zeit erinnern, die lange vergangen ist - gerade so, als würde ihr Wesen einen lang verborgenen Teil in meinem tiefsten Inneren berühren und mit einem scharfen Schrei aufwecken. Mir kommt es so vor, als würde sich etwas unbekanntes in meinem tiefsten Inneren an sie erinnern.

Ich versuche diese Gedanken, oder viel mehr diese Gefühle, abzuschütteln, sobald sie sich ihren Weg an die Oberfläche meines Bewusstseins erkämpft haben.

Es ist verrückt so etwas zu denken, fährt es mir durch denn Kopf. Es ist verrückt, etwas oder jemanden zu erkennen, denn man noch niemals zuvor gesehen hat. Und es ist komplett verrückt, etwas oder jemanden zu vermissen, dass zuvor nicht in seinem Leben war.

Zudem bin ich aus einem bestimmten Grund hier: Ich soll Callisto beobachten, ihre Gewohnheiten studieren, ihr Leben in- und auswendig kennenlernen und sie schliesslich zum Silbermond Rudel und zu unserem Alpha bringen.

Allerdings mir hat keiner gesagt, dass sie nicht weiss wer sie tatsächlich ist und mir erscheint es fast so, als würde dies die ganze Sachlage verändern. Ich habe nicht damit gerechnet, dass jemand wie sie nichts von dem Wolfsgen weiss, das zweifelsohne in ihren Adern fließt. Man sagte mir, sie sei eine Reinblütige, die sich den Befehlen des Alpha's widersetzt und das sie zurück gebracht werden muss, um ihre gerechten Strafe für den Pflichtbruch zu erhalten. Doch ihre Unwissenheit und die Tatsache, dass sie sich noch nie verwandelt hat, lässt mich an der gesamten Situation zweifeln.

Wie kann es sein, dass eine Reinblütige ihr gesamtes Leben die Verwandlung in einen Wolf unterdrücken konnte? Das ist praktisch unmöglich. Und wenn sie sich wirklich noch nie zuvor verwandelt hat, wieso dann ausgerechnet letzte Nacht? Was war der Auslöser? Und ist es wirklich ein Zufall, dass wir uns in dieser Nacht zufällig über den Weg gelaufen sind? Denn auch wenn ich sie seit einigen Tagen mehrfach durchgehend beobachtete, so war dieses kleine Zeitfenster unserer unverhofft übereifrigen Begegnung reiner Zufall, und alleine das macht die ganze Sache mehr als merkwürdig.

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