Kapitel 9

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Ihr Blick trübte sich und schwarze Punkte schwammen in ihr Blickfeld. Es wäre so leicht für sie, einfach die Augen zu schließen und die Dunkelheit über sich hereinbrechen zu lassen.
Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie gebraucht wurde und das sie wach bleiben musste. Ihr war bewusst, dass wenn sie die Augen zumachen würde, sie nie wieder die Welt sehen würde.
Ein dunkler Streifen versperrte ihr die Sicht nach oben. Sie verstand nicht wieso er da war, doch sie wollte, dass er weg ging.
Mit letzter Kraft griff sie nach dem Streifen um ihn zu verscheuchen, aber sobald sie ihre Finger darum schloss wurde sie ruckartig nach oben gezogen. In Richtung Licht, in Richtung Hoffnung.
Als ihr Kopf durch die Wasseroberfläche brach, sogen ihre Lungen den Sauerstoff ein als wollten sie daran ersticken.
Luna keuchte und hustete, während sie sich verzweifelt an das Seil klammerte, als das sich der dunkle Streifen, herausstellte.
Durch den Schwung, mit dem sie aus dem Wasser flog, prallte sie mit einem lauten Knall gegen den Rumpf des Schiffes.
Ihre Finger rutschten ein wenig ab und Luna krallte sich schmerzhaft verkrampft an ihre einzige Hoffnung.
Sie spürte wie sie immer weiter nach oben gezogen wurde. Ihre Wange bekam ein paar heftige Kratzer, weil sie nicht mehr die Kraft hatte, sich von der Schiffswand wegzudrücken. So wurde sie ganz langsam nach oben geschleift.
Dann spürte sie, wie sich eine Hand um ihre eigene schloss und sie, durch ein Bullauge, ins Innere des Schiffes geholt wurde.
Jemand hob sie hoch und trug sie in eine Ecke, in der ein Haufen Decken ausgebreitet waren. Unbewusst nahm sie war, dass Marc sie vorsichtig ablegte.
,,Geht's dir gut?" fragte Grace, die sich neben ihr niederließ. Sie deckte Luna mit weiteren kratzigen Wolldecken zu, um die Kälte aus ihrem Körper zu treiben.
Sorgenvoll blickten die wässrigen grünen Augen auf sie hinab.
,,Hast du dich verletzt? Brauchst du noch irgendetwas?"
Luna versuchte dankbar zu lächeln, wobei sie vermutete, dass es eher eine verzerrte Grimasse wurde, weil die blutigen Kratzer auf ihrer Wange sich mit einem brennenden Schmerz zurückmeldeten. Stattdessen antwortete sie mit einem leisen ,,Danke" und Grace verzog sich in eine andere Ecke des Raumes.
Luna wurde sich bewusst, dass Marc immer noch neben ihr stand, sie aber nicht ansah. Verzweifelt versuchte sie seinen Blick aufzufangen.
,,Marc" setzte sie an. Was sollte sie jetzt weiter sagen? Sollte sie ihm sagen, dass es nicht seine Schuld war oder dass es ihr gut ging, sodass er sich keine Sorgen machen musste? Sie wusste es nicht. Er würde sich trotzdem Vorwürfe machen, ganz egal was sie sagte.
Endlich sah er sie an, aber in seinem Blick lag nur Verzweiflung und Schuld. Wortlos klopfte Luna mit der flachen Hand, neben sich auf die Decken.
Er zögerte, ließ sich dann aber doch steif nieder.
,,Ich habe wieder zugelassen, dass du dich verletzt" Seine Stimme war fest, aber Luna spürte die Unsicherheit, die ihn wie eine Wolke umgab.
,,Marc" unterbrach sie ihn.
Er ignorierte sie und redete einfach weiter.
,,Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass du das machst. Jemand anders hätte es machen sollen."
,,Marc hör auf" versuchte sie es nocheinmal energischer.
,,Trotzdem will ich, dass du weißt wie leid es mit tut. Und ich kann verstehen, wenn du mir nicht mehr vertrauen kannst"
Luna sah wie er sich innerlich auf ihre Antwort wappnete. Er sah ihr nicht in die Augen, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Seine Schultern spannten sich an und seine Kiefermuskeln arbeiteten.
,,Hör auf solchen Scheiß zu reden! Ich liebe dich und das wird auch so bleiben!"
Endlich sah er sie an. Mit einem leichten Lächeln stieß er die Luft aus, die er angehalten hatte.
Man sah ihm die Erleichterung in den Augen stehen. Ganz sanft zog er sie an sich und gab ihr einen federnden Kuss auf die Stirn.
Dann drückte er sie in die Decken und legte noch eine über ihren Bauch .
,,Du solltest jetzt besser schlafen. Ich versuche in der Zwischenzeit etwas für deine Wange aufzutreiben."
Mit diesen Worten ließ er sie allein. Luna hing ihren Gedanken nach und schlief irgendwann ein. Ob vor Erschöpfung oder Verwirrung, wusste sie nicht.
In dieser Nacht träumte sie das erste Mal von ihm.
Die Landschaft um sie herum war kahl und trostlos. Ein paar verkrüppelte Bäume streckten sich wie die knochigen Finger von Skeletten in den Himmel. Sie stand in einem Tal, umringt von hohen Bergrücken. Der Boden war warm, als würde er glühen. Durch Spalten, die immer wieder zischten, trat Dampf heraus.
Es roch ätzend und ließ ihre Augen tränen.
Sie hatte diese Umgebung noch nie gesehen. Warum zeigte ihr Unterbewusstsein, ihr soetwas?
Lange geschah nichts und Luna fing an, die Landschaft zu erkunden.
Bei jedem Schritt brannten ihre Knochen, als würden sie in Flammen stehen. Der Schmerz störte sie nicht, nur das weitergehen war wichtig. Irgendeine nichtmenschliche Kraft zog sie weiter. Einmal blieb sie stehen und hielt sich an einem der krüppligen Bäume fest. Die raue Borke schnitt ihr in die Finger. Luna hatte das Gefühl, ihr Inneres kehre sich nach außen und wieder zurück. Mit einem erschrockenen Aufjaulen ließ sie los. Ihre Hände waren warm und klebrig. Und voller Blut. Seit wann konnte man in einem Traum bluten?
Das unsichtbare Seil, dass an ihr zog, führte sie einen Berghang hinauf. Mehrmals stolperte sie über brüchiges Geröll und Steine, die sich unter ihren Füßen lockerten und immer wieder kleine Lawinen auslösten.
Gerade als sie das Gefühl hatte gleich ohnmächtig zu werden, hörte das Ziehen so abrupt auf, wie es angefangen hatte. Vor Erschöpfung brach sie zusammen und sah aus dem Blickwinkel des Bodens, die sich vor ihr erstreckende Landschaft.
Luna setzte sich langsam auf und betrachtete das Bild, dass sich ihr bot.
Eine weite Ebene, die einzig und allein durch einen Berg und einen See unterbrochen wurde.
Ansonsten sah das Land ziemlich karg aus.
Eine Präsens drängte sich in Lunas Blickfeld. Sobald sie jedoch herumwirbelte um zu sehen, was sich da in ihrer Nähe befand, entglitt ihr der Blick auf dieses Wesen.
,,Wo bist du zeig dich"
Sie spürte, wo die Präsens war, konnte sie aber nicht erblicken.
,,Ich bin da. Du wirst mich kennenlernen, auch wenn du jetzt noch nicht verstehst. Deine Reise wird dich hierher führen, falls du dich dafür entscheidenst, den vorhergesehenen Weg zu gehen."
Die Stimme war tief und so uralt, als würde sie schon immer existieren. Es lag eine Weisheit, aber auch Jugend darin. Eine ewig jung gebliebene Stimme.
Verwirrt sah Luna sich wieder die Landschaft an. Ihr war inzwischen klar geworden, dass sie, egal wie oft oder schnell sie es versuchte, das Wesen nicht sehen konnte.
,,Was für ein vorhergesehener Weg? Wer bist du?"
Die Gestalt befand sich jetzt direkt hinter ihr. Luna lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Dieser Traum war ihr nicht geheuer. Ganz und gar nicht.
,,Wer ich bin, tut nichts zur Sache. Du wirst es erfahren wenn es soweit ist. Aber geschehen wird es"
Diese Aussage steigerte ihre Verwirrung mehr, als das sie sie linderte.
,,Der vorhergesehene Weg" fuhr die Gestalt fort und seufzte tief. ,,Es gibt keinen festgeschriebenen Weg der Zukunft, aber es gibt einen, der bei dir besonders hell leuchtet. Dieser Weg wird dich hierher führen. Doch bedenke, nichts ist sicher. Die Zukunft ist einem ständigen Wandel unterzogen. Auf deiner Reise kann vieles geschehen und nun, schließe deine Augen"
Luna wusste nicht warum sie gehorchte, aber etwas in der Stimme des Wesens ließ sie wissen, dass Widerspruch nicht geduldet wurde.
Sie spürte, wie die Präsens um sie herum ging und schließlich vor ihr stehen blieb.
Die Versuchung war groß, die Augen zu öffnen und ihren Gegenüber anzusehen, aber sie widerstand ihr.
Eine eiskalte und zugleich glühend heiße Hand legte sich auf ihren Kopf und Luna zuckte erschrocken zusammen.
Dann verschwand der Boden unter ihren Füßen und sie fiel immer tiefer, ohne auf dem Boden aufzuschlagen.

Die Entdeckung Mittelerdes Where stories live. Discover now