Kapitel 1

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»Du hast jetzt nicht im Ernst vor die zu finden, oder?«, sah mich Beth geschockt an, als ich mir den Brief zum gefühlt vierhundertsten Mal durchlas.

Aurora,

Tut mir leid. Tut mir leid, dass ich dir nie die Wahrheit erzählt habe. Diesen Brief hast du womöglich von deinem Onkel bekommen. Du weißt ja wie es mir geht... oder besser gesagt ging. Wenn du diesen Brief hier erhältst, bin ich wahrscheinlich schon verstorben. Ich danke Richard von Herzen, dass er es geschafft hat dir endlich diesen Brief zu geben.
Ich bin mir sicher du hast viele Fragen. Geh zu der Adresse, die ich dir unten hingeschrieben habe. Die Frau, auf die du antreffen wirst, ist eine sehr gute Freundin deiner Mutter. Sie wird dir alles erklären.
Deine Eltern haben dich nie verlassen, doch wollten dir einen normales Leben ermöglichen. Hätten sie nur gewusst, was für Menschen dich großziehen würden, hätten sie dies bestimmt nicht gemacht. Doch deine Adoptiveltern brachen den kompletten Kontakt ab, sodass deine Familie nichts mehr von dir mitbekam.
Glaube mir, deine Eltern lieben dich. Nicht mal einen einzigen Moment haben sie aufgehört dich zu lieben.
Bleib gesund und pass bitte gut auf dich auf Liebes.

Deine Tante Cassandra.

»Du kannst doch von mir nicht erwarten, dass ich diese Menschen nicht finde«, antwortete ich ihr. Ich musste herausfinden warum sie mich zur Adoption freigegeben hatten. Was genau war denn nur passiert? Warum musste ich 18 Jahre lang mit diesen grauenhaften Menschen leben? Wer zum Teufel waren meine leiblichen Eltern?

Ich seufzte. Fragen über Fragen. Und die Antworten darauf konnten mir nur Menschen geben, von denen ich nichts wusste.

»Ich sorge mich nur um dich. Was wenn die das Gleiche noch einmal tun? Irgendeine Gefahr muss es ja geben, weshalb die dich verlassen haben.«

Verlassen.

Doch verließen sie mich wirklich? Der Brief von Tante Clarissa wirkte für mich eher so, als hätten sie keine andere Wahl mehr. Doch ob dieser Brief der Wahrheit entsprach konnte ich jetzt noch nicht wissen.

»Der einzige Weg, um all das herauszufinden ist, dass ich diese Leute finde«, meinte ich dann schulterzuckend und stand auf. Beth schaute mich nur kurz an und schüttelte schüttelte den Kopf.

»Wie du möchtest. Hoffentlich sind das normale Menschen. Wobei ich echt meine Zweifel habe. Pass auf dich auf, ja? Und falls was ist kannst du immer zu mir kommen«, hörte ich noch von ihr und verabschiedete mich dann schnell. Mit den wenigen Sachen, die ich hatte, war es nicht wirklich schwer mich sofort auf den Weg zu machen. Aufregung breitete sich in meinem Körper aus. Nie fühlte ich eine enge Bindung zu meiner Familie, die mich adoptierte. Schon immer war ich ein Außenseiter der Familie und nirgends willkommen. Viele adoptierte Menschen würden ihre biologischen Eltern wahrscheinlich nicht sehen wollen. Doch mein Fall war anders. Ich war mir sicher, dass sie mir alles haargenau erklären würden. Niemand würde sein eigenes Kind einfach so weggeben, nicht wahr?

Angekommen bei dieser Freundin meiner Mutter sah ich mir die Adresse noch einmal ganz genau an. Ich müsste hier richtig sein. Leicht nervös drückte ich auf die Klingel und wartete ungeduldig auf das Aufmachen der Tür.

Diese öffnete sich dann, als eine Frau mit langen blonden Haaren und kastanienbraunen Augen plötzlich vor mir stand. Ich schluckte schwer. Sie kannte also meine leibliche Familie und würde mich wahrscheinlich zu ihr bringen.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, hörte ich die zarte Stimme der Frau. Sie musterte mich misstrauisch. War ich hier etwa falsch? Tausend Gedanken strömten durch meinen Kopf. Ich wusste nicht einmal, wie ich ihr erklären sollte, dass sie die Freundin meiner leiblichen Mutter war, von der ich erst vor einigen Stunden erfuhr. Das alles hörte sich komplett absurd an. Doch ich konnte mein ganzes Leben lang nicht damit verbringen zu hinterfragen, wer eigentlich diese Menschen waren. Dies war meine einzige Chance.

»Kennen Sie zufällig eine Cassandra Jonathan?«

Ich versuchte so lautlos wie möglich zu atmen. Mein Puls began schneller zu schlagen, ich konnte regelrecht spüren, wie das Blut durch meine Adern schoss. Erst sah sie verwirrt zu mir, doch dann weiteten sich ihre Augen. Ein kleines bisschen Hoffnung baute sich in mir auf. Diese Frau musste meine Tante kennen.

»Komm rein«, mit einem Ruck zog sie mich ins Haus und schloss sofort die Tür. Diesmal war ich es, die sie verwirrt anschaute. Was war denn jetzt los?

»Setz dich.«

Ich blieb einfach still und folgte ihren Anweisungen. Das Innere des Hauses wirkte beruhigend. Viele Pflanzen und Bücher schmückten den Wohnraum, in dem wir gerade saßen. Auf dem Tisch lag ein leerer Pizzakarton und eine geöffnete Cola-dose. Wahrscheinlich hatte sie kurz bevor ich kam gegessen, denn der Geruch von Pizza gemixt mit einem starken Vanilleduft lag noch immer im Raum.

»Ignoriere die Unordnung hier bitte«, fing sie an. Ich lächelte nur leicht und wartete auf das Nächste, was sie sagen würde. Mit ihren Händen stützte sie ihren Kopf und sah nachdenklich auf den Boden. Seufzend drehte sie sich dann zu mir. Ein schwaches Lächeln konnte ich auf ihrem Gesicht erkennen.

»Du siehst deiner Mutter so ähnlich.«

Diese Worte brachten mich kurz aus der Fassung, als ich plötzlich anfing zu husten. Dass sie jetzt so etwas sagen würde hatte ich nicht erwartet. Sollte ich mich freuen? Oder lieber doch nicht? Ich sah ihr ähnlich.

»Sie kennen also meine leibliche Mutter?«, fragte ich noch einmal nach, um auch wirklich sicher zu gehen, dass diese Frau die Person war, nach der ich suchte. Immer noch lächelnd nickte sie.

»Natürlich kenne ich sie, Leah war und ist meine beste Freundin seit Grundschultagen. Glaub es oder nicht, ich war sogar bei deiner Geburt dabei. Wir fuhren ins Krankenhaus, als die Wehen anfingen, doch deine Mutter hielt es bis dahin nicht mehr aus, weshalb sie dich nicht im Krankenhaus sondern auf der Autobahn auf die Welt brachte. Wie groß du nur geworden bist...«, wieder seufzte sie und kam mir etwas näher. Während ich das alles noch verarbeiten musste, konnte ich mich keinen Millimeter vom Fleck rühren. Ich war einfach noch viel zu schockiert darüber. Alles war eine Lüge. Von meiner Geburt bis hin zu dem jetzigen Moment. Mein Name, meine Familie, mein komplettes Leben waren nicht real. Hieß ich überhaupt Aurora?

»Wie hat mich meine Mutter genannt? Und wann genau ist mein Geburtstag? Bin ich schon 18 oder älter? Was passierte damals?«, schoss es aus mir heraus. Ich konnte mich nicht zurückhalten. Sie war die einzige Person auf dieser Welt, die mir von der Wahrheit erzählen konnte. »Tut mir leid, falls es so viele Fragen auf einmal sind. Nehmen Sie sich bitte alle Zeit der Welt! Ich kann warten.«

»Es ist okay, aber das Meiste kann ich dir nicht selber erzählen, da musst du dich schon mit deiner Familie unterhalten. Kommen wir zu den einfachsten Fragen, ja deine Mutter nannte dich damals Aurora, weil ihr der Name so gefiel, und beantragte, dass deine Adoptiveltern dir diesen Namen geben sollten, was sie dann auch zu unserer Überraschung machten. Dein Geburtstag ist der 15. Juni und du bist immer noch 18, nur hast du... sagen wir mal etwas später gefeiert. Zur letzten Frage kann ich dir keine Antwort geben, da es mit einem wichtigen Versprechen zutun hat, welches leider noch immer gilt. Morgen werde ich dich zu deiner Familie bringen«, ratterte sie alles runter. Ich brauchte einige Sekunden, um mich von diesem Schock zu erholen und auch um zu realisieren, was sie gerade sagte.

Ich werde dich zu deiner Familie bringen.

Nachdenklich sah ich die Frau an. Ich war zwar nicht die schlauste Person auf Erden, doch dass etwas mit meiner leiblichen Familie nicht stimmte konnte sogar ein Blinder erkennen.

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AuroraWhere stories live. Discover now