Kapitel 2

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Angekommen stiegen wir aus. Hier wohnten sie also. Das Haus, vor welches wir standen ähnelte schon eher einer Villa. Es war sogar pompöser als das meiner Adoptiveltern. Die Wände sahen gepflegt aus, genauso wie der Garten. In der Garage befanden sich zwei Autos, ein schwarzes und ein graues.

Als ich mir den Brief zum ersten Mal durchlas, dachte ich mir, dass ich wegen finanziellen Problemen weggegeben worden wurde. Doch dieses Haus hier zeigte das Gegenteil. Beide meiner "Familien" waren reich. Soviel Glück hatte auch nicht jeder.

Dennoch aber könnten sie früher arm sein. Vielleicht kamen sie ja erst später an das ganze Geld ran.

»Hannah, lebten sie schon immer so?«, fragte ich dann die blonde Frau, die mir gestern ihren Namen verriet und auf dem Weg hierher mir erlaubte sie zu duzen. Sie sah mich nachdenklich an.

»Was meinst du?«

»Na ja wie soll ich es sagen... Hatte meine Familie früher mit finanziellen Problemen zu kämpfen?«, etwas unangenehm war es mir schon solch eine Frage zu stellen. Doch ich musste mich etwas vorbereiten. Ich wusste weder wie diese Menschen tickten noch wie sie lebten. Jedes einzelne Detail, welches mit meiner Adoption zu tun haben könnte, war mich zu wichtig.

»Nein, deiner Familie fehlte es nie an Reichtum. Doch das alles werden sie dir selber erklären. Komm, lass uns dich ihnen vorstellen«, antwortete sie nur schnell und zog mich zur Tür, bevor ich noch weitere Fragen stellen konnte.

Schwer schluckte ich. Gleich würde ich sie kennenlernen. Mein Herz fing wieder an schneller zu schlagen und meine Knie fühlten sich wie Wackelpudding an. Selten in meinem Leben war ich so aufgeregt. Ein komisches Kribbeln in mir ließ mich etwas schüchtern fühlen.

Noch einmal atmete ich tief ein und aus, als Hannah auf die Klingel drückte. Eine etwas älter aussehende Frau öffnete lächelnd die Tür. Irgendwie war ich mir sicher, dass diese Frau nicht meine Mutter war.

»Da seid ihr ja endlich! Alle warten schon auf euch«, begrüßte sie uns mit einem mexikanischen Akzent. Auf Anhieb spürte ich die Wärme, die sie ausstrahlte.

»Das ist Miranda, die Hausangestellte«, stellte Hannah sie mir vor. Als Antwort bekam sie ein stummes Nicken von mir. Also hatte ich Recht. Mit der eigenen Mutter hatte man wohl immer eine ganz besondere Bindung.

Vorsichtig betrat ich das Haus. Alles hier fühlte sich viel zu fremd an. Ob ich mich an diese Umgebung gewöhnen könnte?

Ich wusste es nicht.

Vielleicht würden sie mich ja gar nicht mögen. Mich zu nervig finden. Oder mich immer anders behandeln. Ich war mehr oder weniger jemand Fremdes.

Es tat weh zu wissen, dass man nirgends wirklich dazugehörte. In Sachen Familie würde ich wahrscheinlich für immer ein Außenseiter bleiben. Seufzend folgte ich Hannah, die meine Hand nahm und mich zu einer Gruppe von Menschen zog.

Kurz stockte mir der Atem. Ich hatte so eine große Familie? Oder waren es doch nur einige Verwandte?

Insgesamt waren sieben Menschen im Wohnzimmer, mit Miranda, Hannah und mir machten es schon zehn. Alle sieben Augenpaare starrten zu mir. Unsicher spielte ich mit meinen Fingern.

»Du bist also unsere Aurora?«, eine ältere Dame lächelte mich warm an und streckte ihre Hand zu mir. Ich wusste nicht warum, doch meine Beine führten mich automatisch zu ihr. Vor ihr stehend nahm ich ihre Hand und nickte leicht mit dem Kopf. Mit ihrer freien Hand wischte sie sich die Tränen weg. Freudetränen. »Ich bin deine Großmutter Kind.«

Meine Großmutter... Während in meiner Adoptivfamilie alle anderen Enkel favorisiert wurden, fühlte ich hier zum ersten Mal die Wärme einer Großmutter. Ich sah sie mir ganz genau an. In ihrem Gesicht befanden sich einige Falten, die Haare hatten schon weiße Strähnen und ihre Augen strahlten etwas Müdigkeit und Sympathie aus. Sie ähnelte den Großmüttern aus Büchern und Filmen.

»Schau, das hier sind deine Eltern«, meinte sie dann freudig und zeigte zu dem Paar, welches auf der Couch saß und mich beobachtete. Während die Frau, die wohl meine Mutter war, stumm anfing zu weinen, entstand ein kleines Lächeln auf dem Gesicht des Mannes. Würde ich ihn draußen sehen, würde ich wahrscheinlich Angst bekommen und wegrennen. Seine harten Gesichtszüge machten es mir nicht einfach Emotionen zu erkennen. Doch sein Blick fühlte sich anders an. Viel sanfter als ich es erwartet hätte.

Ich wusste nicht was ich machen sollte. Etwas sagen? Aufstehen? Sie umarmen? Was machte man in solch einer Situation?

Doch bevor ich weiter nachdenken konnte stand meine Mutter plötzlich auf und kniete sich neben mich hin. Vorsichtig nahm sie meine Hände in ihre und versuchte nicht mehr zu weinen, scheiterte aber. Wieder kullerten ihr die Tränen übers Gesicht. Eine kleine Stimme in mir meinte, dass ich sie umarmen sollte. Und aus einem mir unerklärlichen Grund hörte ich auf diese Stimme. Die Umarmung beruhigte beide von uns. Nachdem sie aufhörte zu weinen, löste ich mich von ihr und schenkte ihr ein schwaches Lächeln. Sie strich mit mit ihren Fingern über die Wange.

»Ich habe dich vermisst«, war das erste, was ich von ihr hörte. Ihre zarte Stimme hörte sich wunderschön an. Gefüllt mit der Wärme, die ich nie zu hören bekam. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich wie eine Tochter. Zum ersten Mal sah ich jemanden als meine Mutter. Das mit der Bindung stimmte also.

»Aurora.«

Ich drehte mich zu meinem Vater um. Zwar hatte er eine tiefe Stimme, dennoch aber machte sie mir weder Angst noch ließ sie mich unsicher fühlen, wie es beispielsweise bei meinem Adoptivvater war. Langsam stand ich auf und setzte mich zu ihm auf die Couch. Seine Augen wurden glasig, doch er versuchte dies zu verstecken.

»Wir sind so froh dich endlich wieder zu haben«, flüsterte er leise, aber noch laut genug um es hören zu können.

»Ich... Ich bin auch froh euch gefunden zu haben.«

Meine sonst so starke Stimme hörte sich auf einmal so zerbrechlich an. In mir herrschte eine Gefühlsachterbahn. Noch nie in meinem Leben fühlte ich mich willkommen. Doch diese Menschen hier ließen mich zum ersten Mal in meinem Leben als ein Teil von etwas fühlen. Schon immer war ich eifersüchtig auf andere, die eine gute Beziehung mit ihrer Familie hatten. Wenn ich das Wort "Zuhause" benutzte, meinte ich eigentlich nur den Ort, an dem ich aß und schlief. Nie fühlte es wirklich wie ein Zuhause an. Hier aber war es anders. Dieses Gefühl in mir war unbeschreiblich, doch ich mochte es. Ich fühlte mich hier wohl. All meine Zweifel und Bedenken waren wie weggewischt.

Nach diesem emotionalen Treffen erfuhr ich, dass die anderen vier Personen mein Onkel, seine Frau und meine beiden Cousins waren. Sofort verstand ich mich mit allen. Wir lachten und weinten. Ich versuchte mir jedes einzelne Detail über alle zu merken.

Stunden vergingen und wir redeten immer noch über alles Mögliche. Dieses sich wohlfühlende Gefühl verschwand für keine einzige Sekunde. Und genau das war der Moment, in dem ich es realisierte.

Ich hatte endlich eine Familie.

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AuroraWhere stories live. Discover now