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Es war Anfang Dezember und mit den ersten leichten Schneeflocken wurde die Weihnachtsdekoration herausgeholt. In der ganzen Stadt sah man bunte Lichter und Weihnachtsmannfiguren und der Duft von Zimt und Nelken hing in der kalten Luft.

Ich ließ Dale nicht an mich heran und ignorierte ihn, wenn er versuchte, das Gespräch zu suchen. Das Training für die Regionalmeisterschaft hielt mich eh gut genug auf Trab und dazu kamen nun auch Stunden des Lernens. Kurz vor Weihnachten standen die Zwischenprüfungen an und das Lernen und das Training nahmen nun meine gesamte Freizeit ein.

Die Nachmittage, an denen kein Training war, verbrachte ich büffelnd in der Bibliothek. Oft war Cathy auch dabei, an manchen Tagen lenkten wir uns aber auch zu sehr ab und lernten dann doch lieber einige Stunden allein.

Dale schien sich zuhause auf die Prüfungen vorzubereiten oder vielleicht tat er es auch einfach gar nicht, jedenfalls fuhr ich an diesen Tagen nicht mit ihm, sondern mit dem Bus nach Hause. So konnte ich ihm und seinen viel zu langen Blicken, die ich häufig auf mir spürte, auch besser aus dem Weg gehen.

Am Dienstag vor der Meisterschaft kam ich ziemlich spät nach Hause. Mom, John und Dale hatten schon gegessen und in der Küche fand ich einen einsamen Teller mit Nudeln stehen, den ich in die Mikrowelle schob.

Mit dem Teller und einer Gabel bewaffnet, ging ich ins Wohnzimmer, aus dem Weihnachtsmusik tönte. Erstaunt blieb ich im Türrahmen stehen. Neben dem Fernseher war ein riesiger Weihnachtsbaum aufgebaut, den Mom und John gerade schmückten.

Dale stand an der Fensterfront und brachte darüber gerade eine Lichterkette an. Da er groß war, kam er auch ohne Leiter zurecht, musste sich in der Ecke aber doch auf seine Zehenspitzen stellen. Benommen starrte ich seine Rückseite an und ließ mich von seiner Körperspannung beeindrucken, bis Mom mich aus meiner Trance riss.

„Tillie! Wie findest du ihn?", rief sie begeistert und deutete mit einer ausladenden Geste auf den Weihnachtsbaum. Dale bemerkte mich nun auch und drehte sich zu mir um.

„Groß...", gab ich von mir. „Schön! Sehr schön, Mom. Wie habt ihr den hier reinbekommen?"

„Na, ich hab den sicherlich nicht getragen", gab Mom zu und sah lächelnd zu Dale. „Dale war zum Glück schon früh da, ohne ihn hätten wir wahrscheinlich einen ziemlich kleinen Baum mitnehmen müssen."

Dale grinste mich blöd an und hob stolz die Augenbrauen. Ich verdrehte die Augen.

„Na so ein Glück aber auch", sagte ich und bewegte mich dann zum Esstisch, wo ich meine Nudeln aß.

Beim Essen bemerkte ich ein mit Papier umwickeltes Etwas auf dem Tisch. Das Papier stammte von einem Blumenladen. Dale kam in die Esstischecke geschlendert und nahm sich das Paket.

„Was ist das?", fragte ich argwöhnisch.

Schmunzelnd entwickelte er das Papier und ein kleiner, blättriger Strauch mit weißen Beeren kam zum Vorschein. Verwirrt fragte ich mich, welche Pflanze zu dieser Jahreszeit grüne Blätter hatte und Früchte trug.

„Das ist ein Mistelzweig", erklärte Dale und knotete um das Ende des Strauchs ein rotes Band zu einer Schleife zusammen.

Ich sah zu ihm auf. Es war ein recht merkwürdiger Anblick, den supercoolen Dale Collins dastehen zu sehen, wie er lächelnd auf einen Mistelzweig hinuntersah und die rote Schleife zurechtrückte.

„Aww, ich wusste gar nicht, dass du so ein Romantiker bist!", sagte ich grinsend und versuchte nicht darüber nachzudenken, wie romantisch es wäre, Dale unter dem Zweig zu küssen.

Dale ging nicht auf mein Sticheln ein. „Das ist Tradition bei uns, einen Mistelzweig über die Terrassentür zu hängen." Milde lächelte er mir zu. „Eine Tradition von meiner Mom und mir."

„Oh." Mein Grinsen verschwand. Dale sprach nie von seiner Mutter. „Das habt ihr immer zusammen gemacht?"

„Jap. Also, nein. Eigentlich haben wir das nur ein einziges Mal gemacht. Genau einen Monat nach meinem Geburtstag, das hab ich mir damals gemerkt. Und seitdem hänge ich jedes Jahr an dem Tag einen Mistelzweig auf." Er seufzte, während er an dem Grün zupfte. „Und an ihrem Todestag bringe ich ihr den Zweig", fügte er so leise hinzu, dass ich es bei der lauten Weihnachtsmusik fast nicht verstand.

Mom und John waren gerade damit beschäftigt, Lametta am Baum zu verteilen und bekamen unsere Unterhaltung gar nicht mit. Ich griff nach Dales Hand und drückte sie zuversichtlich. Er erwiderte den Druck und sah dankbar zu mir herunter. Sein Daumen strich über meine Finger und meine Atmung fiel in einen unruhigen Rhythmus.

„Wie schmecken dir eigentlich die Nudeln?", fragte Dale und seine Miene hellte sich etwas auf. „Ich habe heute gekocht."

Erstaunt löste ich meinen Blick von ihm und sah auf meinen halbvollen Teller. Ich zog vorsichtig meine Hand aus seiner, um mich wieder dem Essen zu widmen. Dales nun leere Hand ballte sich zu einer Faust, und es wirkte, als würde er darin die Erinnerung an meine Hand einfangen wollen. Unmerklich verzog ich das Gesicht und fragte mich, was für einen Austen-Quatsch ich da dachte.

„Gut. Lecker. Hätte nicht gedacht, dass du kochen kannst."

„Tja, Tillie. Ich kann viele Sachen gut. Schwimmen, tischlern, malen, kochen." Er sah mir tief in die Augen. „Und andere Sachen kann ich auch besonders gut." Anzüglich wackelte er mit den Augenbrauen.

Ich seufzte entnervt und wandte mich wieder meinem Teller zu. Dale lachte in sich hinein und machte sich dann mit dem Zweig auf den Weg zur Terrassentür. Er knotete noch ein dünnes Band an die Schleife, woran er den Mistelzweig an dem Nagel über der Tür aufhängte. Als er sich wieder umdrehte und mich angrinste, merkte ich, dass ich ihn wieder angestarrt hatte.

Ich leerte schnellstmöglich meinen Teller, wünschte den anderen eine gute Nacht und verzog mich auf mein Zimmer. Nach dem stundenlangen Lernen war ich fix und fertig und wollte einfach nur ins Bett. Doch mal wieder war ich hellwach, als ich im Dunkeln dalag.

Wenn es so merkwürdig war, warum sehnte sich mein Herz so danach? Wenn es so seltsam war, warum konnte ich dann nicht aufhören, immer und andauernd an ihn zu denken? Anstatt schnell einzuschlafen, lag ich noch eine ganze Weile wach da, während unten die Weihnachtsmusik lief und meine Gedanken an Dale, Mistelzweige und Küsse keine Ruhe gaben.

BestzeitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt