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In der Pause bekam ich nicht viel runter. Ich bemühte mich, meinen Proteinriegel aufzukauen, den ich mit einem isotonischen Getränk runterspülte. Obwohl die Halle gut beheizt und voller Menschen war, zitterte ich ein wenig vor Aufregung und schwitzte zeitgleich.

Auf der Toilette klatschte ich mir etwas kaltes Wasser aus dem Wasserhahn in den Nacken und nickte mir im Spiegel aufmunternd zu. Ich hatte reale Chancen. Ich war stark und schnell und hatte eine verdammt gute Technik bereits in Kindertagen eingetrichtert bekommen, die ich dank Dales Hilfe auch wieder perfekt beherrschte. Auch ich hätte nicht besser vorbereitet sein können.

Ich tupfte mit einem Handtuchpapier meine Stirn und meinen Nacken ab und verließ dann die Damentoilette. An der Wand gegenüber der Tür lehnte Dale. Als er mich sah, deutete er mir mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen.

Er ging durch die Tür zum Treppenhaus und ich schlüpfte hinterher. In einer schnellen Bewegung hatte er mich in seine Arme gezogen und seine Lippen auf meine gelegt. Meine Beine verwandelten sich in Pudding, doch er hielt mich fest im Arm und drängte mich langsam an die Wand.

Keuchend löste er seinen Mund von meinen. „Du glaubst gar nicht, wie sehr mich das hier motiviert", hauchte er und verteilte nun Küsse an meinem Hals. Gänsehaut machte sich auf meinem Körper breit.

„Du solltest deine sportliche Leistung nicht von deiner Gefühlslage abhängig machen", sagte ich und versuchte dabei streng zu klingen, doch meine Stimme versagte, als er mich noch näher an sich heranzog und seine Lippen wieder meine streiften.

„Ich wünschte, das könnte ich", murmelte er in meinen Mund.

Ich ließ meine Hände durch seine Haare gleiten und fühlte den schnellen Herzschlag in seiner Brust, die gegen meine gepresst war.

Durch das Tonsignal, das das Ende der Pause ankündigte, wurden wir unterbrochen. Wir strichen uns die Trainingsanzüge und Haare glatt, bevor wir zur Tür gingen. Dale legte noch einmal seinen Arm um meine Taille und lächelnd nahm ich sein Gesicht in meine Hände.

„Viel Erfolg gleich", raunte er mir zu und drückte mir einen letzten Kuss auf den Mund, bevor wir das Treppenhaus verließen.


Die Tribüne war nun brechend voll und die Gemüter erhitzt. Nervös tigerte Coach Nick vor unserer Bank auf und ab, während wir nicht weniger unruhig auf der Bank warteten. Mit dem Lagenschwimmen begann das Finale. Als Claire an der Reihe war, jubelten wir laut mit, doch schaffte sie nur den vorletzten Platz. Kurze Zeit später setzte ich meine Brille auf und stieg auf den Startblock.

Die zwei Mädchen aus Rochester, die beiden starken Konkurrentinnen aus der Bezirksmeisterschaft und drei mir unbekannte Mädchen taten es mir gleich. Ich atmete noch einmal tief durch und konzentrierte mich nur noch auf das Wasser. Weder Dale noch Cathy, Mom, Coach Nick oder den Typen von der Organisation sah ich, nur noch mich und meinen Freund und Feind zugleich – das Wasser. Ich beugte mich in die Startposition.

Der Pfiff ertönte und dieses Mal sprang ich ab, bevor der Ton verstummte. Ein Rauschen ertönte und ich wusste nicht, ob es das Wasser war oder die Menge oder das Blut, das mein Herz in hohem Tempo durch meinen Körper strömen ließ. Ich spürte es nicht, wenn ich ein- und ausatmete. Ich spürte nur den Schmerz, der sich durch meine Muskeln zog. Das Wasser, das an mir abprallte. Das Ende des Beckens, an dem ich mich abstieß.

Das Rauschen wurde lauter, mein Herz noch schneller, als meine Finger schließlich das andere Ende des Beckens berührten. Ich schwang meinen Kopf in die Höhe und atmete ein. Die Luft schien meine Lunge zu zerstechen, so sehr schmerzte sie. Das Rauschen hörte nicht auf, sondern wurde langsam klarer. Es waren Jubelschreie. Ich drehte mich in die Richtung meiner Mannschaft. Freudenstrahlend schrien sie und klatschten in die Hände. Mein Blick wanderte zur Anzeigetafel. Ich hatte Silber geholt.

Glücklich fiel ich allen in die Arme. Nach vier Jahren Pause vom Schwimmen hatte ich es mit ziemlich hoher Sicherheit geschafft, mich für die Staatsmeisterschaft zu qualifizieren. Coach Nick war außer sich vor Freude und der Mitarbeiter der Stipendienorganisation nickte zufrieden, während er sich Notizen machte.

Dale und Carter machten sich auf den Weg zu den Startblöcken. Bevor er sich die Brille auf die Augen zog, lächelte Dale mich für einen kurzen Moment an. In seinem Blick lag eine für ihn ungewöhnliche Ruhe. Die Jungen stellten sich auf die Blöcke, begaben sich in die Startposition – und sprangen.

Die Konkurrenz war enorm stark. So stark, dass Carter bald hinten lag und knapp den sechsten Platz erreichte. Doch die anderen konnten nichts, rein gar nichts, gegen Dale ausrichten. Mit mehreren Sekunden Vorsprung kam er, in seiner besten Zeit überhaupt, wieder am Startblock an.

Für einen kurzen Moment standen wir unter Schock, doch als die Menge in lautes Gejubel verfiel, erwachten auch wir aus unserer Starre. Coach Nick war fast den Tränen nahe, während er seine Faust immer wieder nach oben stieß. Dale sah mit ungläubiger Miene zur Anzeigetafel, bevor er sich zum Beckenrand wandte und sich aus dem Pool zog. Carter kam zu ihm und sie fielen sich in die Arme.

Auch der Kommentator schien überwältigt zu sein und faselte etwas von ‚rekordverdächtig', doch ich achtete kaum auf ihn. Dale riss sich die Brille und die Kappe vom Kopf und strich sich grinsend durch die Haare, während er und Carter zu uns zurückkehrten.

Wenn ich vorher gedacht hatte, dass Dale gut aussah, war das hier die Krönung. Noch nie hatte irgendetwas oder irgendjemand für mich so wunderschön ausgesehen.


Kevin und Brianna holten in ihren Disziplinen, genauso wie ich beim Brustschwimmen, Bronze. Carter landete beim 100-Meter Freistil auf dem vierten Platz und Dale bekam im 500-Meter Freistilschwimmen Silber. Coach Nick platzte fast vor Stolz. Er zerdrückte Dale beinahe und klopfte ihm danach so häufig auf die Schulter, dass Dale sich unmerklich von ihm entfernte mit der Entschuldigung, mit den anderen aus dem Team einschlagen zu wollen.

Glücklich und erschöpft saßen wir später im Auto, ich mit meiner Silber- und Bronzemedaille um den Hals und auch Dale mit seiner Gold- und Silbermedaille. Da wir unglaublich kaputt waren, setzte sich Cathy nach vorne, um zu navigieren. Cathy, die im Gegensatz zu uns den ganzen Tag über kaum Energie losgeworden war, war total aus dem Häuschen und auch Mom hatte das Schwimmfieber gepackt.

Wir hielten auf der Fahrt an einem Fast-Food-Restaurant und schlugen uns die Bäuche voll. Spätestens danach war Dale wohl auch froh, dass Mom gefahren war, da er kurz darauf im Auto einschlief. Mit müden Augen betrachtete ich sein schlafendes Gesicht, das auf seiner Trainingsjacke an der Autotür lehnte. In der spärlichen Straßenbeleuchtung konnte ich nur schemenhaft seine geschwungenen Lippen und die friedlich geschlossenen Augen sehen, bevor ich selbst wegschlummerte.

Als ich wieder wachwurde, standen wir in unserer Einfahrt. Dass wir Cathy abgesetzt hatten, hatte ich verschlafen und auch Dale war bereits ausgestiegen und öffnete gerade meine Autotür, als ich meine Augen aufschlug. Unter Anstrengung bewegte ich mich aus dem Auto. 

Dale hatte bereits unsere Taschen aus dem Kofferraum geholt und ich war dankbar, dass er meine mitnahm. Mom legte den Arm um mich, als wir zum Haus gingen und lächelnd lehnte ich meinen Kopf an ihren. Als wir eintraten, begrüßte John uns an der Tür. Wir unterhielten uns noch einige Minuten, dann musste ich mich aber wirklich in mein Bett bewegen und wünschte den anderen eine gute Nacht. 

Dale begleitete mich mit meiner Tasche nach oben. Ich putzte noch schnell meine Zähne, hing meine nassen Sachen im Bad auf und ließ mich dann auf die Matratze fallen, auf der er saß. Lächelnd legte er die Decke über mich und streichelte meine Wange. Ich zog ihn zu mir herunter und küsste ihn mit der Kraft, die mir noch blieb, bevor ich wieder einschlief.

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