Kapitel 37

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Am Haus angekommen, steigt Alex sofort aus. Ich folge ihm leise. Er geht zielstrebig in die Küche, wo er sich erstmal etwas zu trinken nimmt. „Alex, es tut mir leid." flüstere ich schon fast. Daraufhin dreht er sich zu mir um und mustert mich. „Geh in dein Zimmer." meint er schließlich nach einigen Sekunden des Anstarrens. Ohne weitere Worte drehe ich mich um und laufe in mein Zimmer.

Diese Schuldgefühle werden immer größer und größer. Es tut mir so wahnsinnig Leid, welch eine Last ich für meinen Bruder darstellen muss. Dass ich mich in den letzten Wochen absolut schlecht benommen habe, ist mir durchaus bewusst. Aber ich wollte mich ändern. Ich wollte eine bessere Schwester sein. Aber das heute in der Schule war einfach zu viel. Diese Worte, dass sich meine Mama wegen mir umgebracht hat. Sie wollen einfach nicht mehr aus meinem Kopf gehen. Unendlich viele Tränen laufen mir die Wangen hinunter, während ich auf meinem Bett sitze, einfach auf den Boden starre und über alles nachdenke.

Langsam stehe ich auf und laufe ins Bad. Ich fühle mich wie ferngesteuert, nicht mehr Herr meiner Sinne. Auch wenn ich bis vor ein paar Wochen ein total schreckliches Leben geführt habe, habe ich diese eine Sache erst einmal gemacht. Aber gerade sehe ich nur diesen einen Ausweg. Es ist das einzige, was mir jetzt helfen kann. Die Schläge und Beleidigungen meines Vaters waren nie so schlimm, als dieser Blick, den Alex vorhin hatte. Er sah so mitgenommen und enttäuscht aus. Ich kann es nicht oft genug sagen, wie Leid mir das Ganze tut. Warum bin ich nicht in dieser Schule geblieben? Dann wäre mir das alles erspart geblieben.

Ohne weiter zu überlegen, greife ich nach der Klinge des Rasierers. Zunächst fahre ich damit leicht über die Haut meines linken Unterarms. Die letzten Schnitte werden etwas tiefer. Dieser Schmerz lässt mich für eine Sekunde den Schmerz meines Herzens vergessen. Es fühlt sich gut an. Die Schnitte bluten, aber nicht so sehr, als ich mir es vorgestellt hätte. Ich drehe das Wasser des Wasserhahns auf und lasse es über meinen Unterarm laufen. Sofort verfärbt sich das Wasser rot. Als ich fertig damit bin, reinige ich noch schnell die Klinge und packe sie weg. Danach laufe ich in mein Ankleidezimmer, wo ich mir bequeme Sachen, sprich einen Hoddie und eine Jogginghose, anziehe. Noch immer total fertig lasse ich mich in mein Bett fallen und schlafe irgendwann ein.

Jemand rüttelt an meiner Schulter. Langsam öffne ich meine Augen. „Tia, aufwachen." meint Ben. Der hat mir gerade noch gefehlt. „Lass mich in Ruhe." nuschle ich in mein Kissen. „Es gibt Essen. Spaghetti, die magst du doch so gerne." sagt er. „Nein, ich habe keinen Hunger. Geh einfach weg." antworte ich Benjamin. „Na los jetzt komm schon. Du musst etwas essen. Ich habe gehört, du hast seit heute morgen nichts mehr gegessen und mittlerweile ist es schon Abend. Also los jetzt." Er greift nach meinem Arm, genau den, wo die Schnitte sind. Leise zische ich auf. „Alles ok bei dir? Tut dir etwas weh?" fragt er gleich besorgt nach. „Nein und jetzt geh doch einfach. Ich will schlafen." sage ich. Doch bevor er geht, greift er mir noch an die Stirn, um zu schauen, ob ich möglicherweise Fieber habe. Der geht mir auf die Nerven mit seinem übervorsichtigen Getue. Zum Glück lässt er mich dann in Ruhe.

Am nächsten Morgen werde ich rechtzeitig wach, um noch pünktlich in die Schule zu kommen. Allerdings bin ich schon verwundert, warum mich keiner geweckt hat, aber vielleicht sind sie ja alle arbeiten. Als ich fertig angezogen bin, gehe ich in die Küche, um noch etwas zu trinken, bevor ich mich auf den Weg zur Schule machen muss.

„Tiana, du gehst heute nicht in die Schule." erschrocken fahre ich herum. Hinter mir steht mein Bruder. „Warum?" frage ich verwirrt. Hoffentlich weiß er nichts von der Situation in der Schule. Ich will nicht, dass es noch schlimmer wird. „Du hast heute einen Termin bei Dr. Becker." sagt er. Ich kann noch immer seinen Ärger auf mich spüren, deshalb nicke ich nur und hinterfrage nicht, wer das ist. Für was muss ich bitte zu einem Arzt? Mir tut doch nichts weh. Vielleicht hat ja Ben ihm von gestern etwas gesagt, auch wenn ich das nicht wirklich glaube. „In 30 Minuten fahren wir. Sei also bereit." meint er noch, bevor er die Küche wieder verlässt.

Twisted Life   (Big Brother Story)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt